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Canale Mussolini

Canale Mussolini

Titel: Canale Mussolini
Autoren: Pennacchi Antonio
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obwohl als Bauer Übung zu bekommen leichter gesagt ist als getan, man muss auf der Scholle geboren sein, sonst bleibt man immer fremd, man wird nie wissen, was der rechte Zeitpunkt ist zum Aussäen oder zum Ernten, man muss sich das bei den anderen abschauen, und auch bei den einzelnen Handgriffen bleibt man immer etwas unbeholfen; vielleicht überließ er deswegen alles ihr. Nach zwei oder drei Jahren beschlossen sie, fortzuziehen und allein zu leben. Sie hörte nach wie vor auf ihre Brüder, aber sie wollte für sich leben, selbständig, mit ihrer eigenen Familie. Um es kurz zu machen, sie pachteten in Codigoro Felder, und sie hatten auch ein paar Kühe, die ihnen die Brüder gegeben hatten, sie verdingten sich als Tagelöhner auswärts, und gelegentlich, wenn es sich ergab, bestellte Großvater mit seinem Karren auch eine Fuhre, denn auf dem Feld, da herrschte ohnehin meine Großmutter. Und Jahr für Jahr kamen die Kinder und wuchsen heran, wurden selbst schon Arbeitskräfte, und sie pachteten noch mehr Grund.
    Damals jedenfalls, 1904, kam Großvater auf einer seiner Fahrten zufällig durch Copparo. Er saß auf dem Kutschbock und beförderte eine Fuhre Wein, alle Fässchen mit Stricken zusammengebunden. Plötzlich war da ein Aufruhr. Es gab eine Kundgebung von Arbeitern: Hilfsarbeiter von der Ferrareser Sumpftrockenlegung, Erdarbeiter, Tagelöhner, Schubkarrenschieber. Und auf der Tribüne sah er Edmondo Rossoni, der gestikulierte und schrie.
    »Na, hören wir doch mal, was dieser Rossoni zu sagen hat«, sagte sich mein Großvater, denn er kannte diesen großen, hageren Burschen, ein Strich in der Landschaft, der jetzt auf dem Platz von Copparo wie ein Verrückter wirkte. Er war aus Formignana, genauer gesagt, aus eben jenem Tresigallo, dem kleinen Nest mit drei Häusern und einem Kirchlein, wo die Schwäger meines Großvaters lebten. Der Vater war Uferbauer – diese Erdarbeiter, die von Hand die Kanäle aushoben –, er zog die Uferwände hoch. Die Mutter war aus Comacchio und arbeitete tageweise auswärts, Tagelöhnerin, Unkraut jäten in den Reis- und Getreidefeldern. Großvater hatte ihn noch als kleinen Jungen gekannt, es war ein Altersunterschied von acht oder neun Jahren zwischen ihnen. Rossoni war jetzt um die zwanzig, und mein Großvater fast dreißig, denn er war Jahrgang ’75 – 1875 –, und mit dreißig hatte er schon einen Haufen Kinder: Temistocle eben, der gleich ’97 auf die Welt gekommen war, dann ein Mädchen, geboren ’98, ’99 Onkel Pericle, das 100er-Jahr hatten sie ausgelassen, ’1 Onkel Iseo, ’2 ein Mädchen, ’3 noch ein Mädchen und ’4 wie gesagt Onkel Adelchi.
    Großvater sah also Rossoni, der wie ein Student gekleidet war, mit Jacke, Hemd und Schleife, und begann ihm zuzuhören, hinter all den Arbeitern. Scheinbar hatten ein paar Tage zuvor in einem Ort auf Sardinien namens Buggerru die Soldaten auf streikende Bergarbeiter geschossen und dabei drei getötet. Oder so sagte jedenfalls Rossoni. Als ob das nicht genug wäre, hatten ein paar Tage später die Carabinieri in Castelluzzo auf Sizilien auf eine Versammlung von Bauern geschossen und dabei zwei umgebracht und zehn verletzt. »O nein«, pflichtete Großvater ihm bei, »so was tut man nicht. Was denn, habe ich nicht einmal das Recht zu protestieren?« Nein, das hatte man nicht. Damit das klar ist, Großvater lebte nicht hinter dem Mond. Er war Fuhrmann und hatte keine eigentlich politischen Ansichten, er wusste, dass es seit jeher Arme und Reiche gab, da war nicht daran zu rütteln, sinnlos, auf dumme Gedanken zu kommen, besser, man fand sich damit ab und basta. Aber wenn einem das Wasser wirklich bis zum Hals steht und man nicht weiß, wie man seine Familie durchbringen soll, und man bittet jemand, der im Überfluss lebt, einem Arbeit zu geben oder eine Lira mehr zu zahlen, dann darf nicht von Carabinieri oder Soldaten auf ihn geschossen werden. »Herrgott noch mal«, sagte mein Großvater bei sich.
    Doch genau in dem Augenblick kamen die Soldaten. In Copparo. Auf dem Hauptplatz. Mit der Königlichen Garde und dem Kommissar für öffentliche Sicherheit. Während Rossoni redete. Und sie wollten ihn zum Schweigen bringen: »Diese Versammlung ist nicht zugelassen, Sie sind verhaftet, auseinandergehen.« Und da ging es los mit Prügelei und Krawall. Mein Großvater blieb bei den Laubengängen und schaute oben von seinem Karren aus zu. Hinter den Arbeitern.
    Ein unbeschreibliches Durcheinander. Staub – es gab schließlich
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