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Candy

Candy

Titel: Candy
Autoren: Kevin Brooks
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|5| 1.   Kapitel
    E s ist schwer, mir das Leben vor Candy zurück ins Gedächtnis zu rufen. Manchmal sitze ich stundenlang da, starre in die Vergangenheit und versuche mir vorzustellen, wie es war, aber irgendwie komme ich nie sehr weit damit. Ich schaffe es nicht, mich ohne sie zu sehen. Was ich gerade noch hinkriege, ist die letzte halbe Stunde, bevor wir uns trafen, die letzten paar Minuten meiner Vor-Candy-Existenz, als ich noch einfach ein Junge war   … einfach ein Junge in einem Zug, ein Junge mit einer Beule, ein Junge, der eine schwarze Mütze mit Sternen trug.
    Ich war unschuldig damals.
    Einfach ein Junge.
    In einem Zug.
    Mit einer Beule.
    Und einer Mütze.
    Das war die ganze Welt, die ich zu kennen brauchte.
     
    Es war Donnerstag, der 6.   Februar, ungefähr fünf Uhr nachmittags, und der Zug Richtung London fast leer. Die Züge, die auf dem entgegengesetzten Gleis vorüberfuhren, waren proppevoll mit grantigen Pendlern, nach einem harten Arbeitstag unterwegs |6| nach Hause, doch in meinem Zug waren die einzigen Reisenden ein paar Schichtarbeiter, ein betrunkener Typ im Anzug und eine Gruppe Disco-Girlies, die sich schon früh zu einer Nacht in der Großstadt aufgemacht hatten. Ich konnte die Mädchen nicht richtig sehen – sie saßen irgendwo hinter mir   –, aber ich hörte sie zusammen kichern, lachen und kreischen, damit auch bloß jeder mitbekam, wie viel Spaß sie hatten. Es war schwer, ihnen
nicht
zuzuhören; erst recht, wenn sie im Vollton zu flüstern anfingen –
    Das hättest du sehn sollen, Jen – so GROSS   …
    Nein!
    Ich bin fast gestorben, glaubste   …
    Hihihihi!
    Als die Mädchen einstiegen – einen Bahnhof nach mir   –, hatte ich mich tief in meinen Sitz gedrückt und das Gesicht zum Fenster gewandt. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie mich nicht sehen konnten – sie waren ganz hinten im Wagen, ich irgendwo in der Mitte   –, doch ich wollte kein Risiko eingehen. Man kennt das ja – sechs von ihnen und du bist allein   … sie total aufgebrezelt und sich zur Schau stellend, außerdem hatten sie schon ein paar gezwitschert   … du trägst eine nagelneue Mütze, von der du noch nicht so ganz überzeugt bist, deshalb fühlst du dich sowieso schon ein bisschen gehemmt   … und du weißt genau, was passieren wird, wenn sie dich sehen   … Sie werden irgendwas
sagen
oder
tun
– nur so zum Spaß   –, du wirst verlegen werden, doch das spornt sie bloß an, noch mehr zu sagen, weshalb du noch verlegener wirst   …
    Also, wie auch immer, das hatte ich jedenfalls gemacht, als die Mädchen einstiegen: Ich hatte mich tief in meinen Sitz gedrückt und vermieden, dass sie mich sahen, den Kopf gegen die Fensterscheibe gelehnt und beobachtet, wie die Welt an mir vorüberzog.
    |7| Und genau das machte ich auch jetzt noch.
    Es gab nicht viel zu sehen in dem grau werdenden Licht   – Hochhausblöcke und ärmliche Wohnsiedlungen seitlich des Schienenstrangs, Verpackungsfirmen, Parks, in der Ferne flimmernde Stadtlichter – und nach einer Weile merkte ich, dass ich bloß starrte, ohne etwas zu sehen, und dem Rattern und Summen des Waggons lauschte, dem Rhythmus der Schienen –
dacka-dadam, DACKa-da-dam, dacka-da-dam, DACKa-da-dam   …
und in Gedanken Songs erfand.
    Das tat ich damals immer – mir Songs ausdenken, in Gedanken die Melodie zurechtspinnen, mir die Musik zusammenträumen   …
    Damals hielt mich das am Laufen.
    Es bedeutete mir etwas.
    Irgendwann wird es mir hoffentlich wieder was bedeuten.
     
    Auch als der Zug sich dem Bahnhof Liverpool Street näherte, starrte ich weiter durchs Fenster und hörte auf die Geräusche des Waggons. Der Ansager erinnerte die Reisenden, beim Aussteigen all ihr Gepäck mitzunehmen, und während die anderen Fahrgäste aufstanden und ihre Taschen packten, lachten die Mädchen über seinen asiatischen Akzent. Wir rollten durch einen alten Backsteintunnel, an dessen Wänden Drähte und Kabel entlangliefen. Es gab kurze dunkle Buchten in der Tunnelwand, kleine verschattete Bögen, die aussahen wie Tunnel im Tunnel. In einigen dieser Buchten konnte ich Statuen erkennen – eigenartige zerbröselnde Figuren, in Backstein gebettet, ihre verwitterten Gesichter umrankt von violettem Unkraut. Als der Zug an ihnen vorbeiratterte, fragte ich mich vergeblich, was sie wohl darstellten – antiken |8| Wandschmuck? Reliquien? Eisenbahngötter? – und was sie dort sollten. Ich meine, wozu setzt man Statuen in einen Tunnel?
    Ich dachte noch
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