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Candy

Candy

Titel: Candy
Autoren: Kevin Brooks
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immer darüber nach, als der Zug abbremste und nur noch kroch, das Dunkel sich hob und wir zischend in dem sterilen Licht des Bahnsteigs anhielten.
    Psschhh   …
    Donk.
    Aaaahhh   …
    Ich ließ die anderen Fahrgäste zuerst aussteigen. Als sich die Mädchen gackernd durch die Tür drängten, über den Bahnsteig davontrabten und ihre hochhackigen Schreie kalt im Bahnhof widerhallten, warf ich einen heimlichen Blick durchs Fenster. Es überraschte mich, wie jung sie waren. Nach ihrer Art zu sprechen hatte ich sie für um die zwanzig gehalten, aber die meisten von ihnen waren eher fünfzehn oder sechzehn, was mich für einen Augenblick verwirrte. Sie waren etwa so alt wie ich   … trotzdem kamen sie mir nicht gleichaltrig vor. Ich war mir nicht sicher, wieso und warum. Ich fühlte mich nicht älter als sie, aber ich fühlte mich auch nicht jünger.
    Ich fühlte mich einfach anders.
    Für einen Moment fragte ich mich, wohin sie wohl gingen und was sie am Ende dieser Nacht wohl erlebt haben würden – Liebe, Sex, Glück, Vergessen, einen betrunkenen Schlag ins Gesicht?
    Dann nahm ich meine Tragetasche, richtete meine Mütze zurecht und stieg aus dem Zug.
     
    Die Bahnhofshalle war von riesigen Pendlerhorden bevölkert, die alle zu ihren Zügen eilten, rannten und drängelten. Es waren Tausende, die in einer endlosen Woge dunkler Anzüge, Aktentaschen |9| und gehetzter Gesichter von den Straßen und der U-Bahn -Station hereinströmten wie ein tobender Schwarm. Der Lärm war unglaublich – eine wirbelnde Kakofonie von trappelnden Füßen und zusammengepferchten Stimmen, von Lautsprecherdurchsagen, zischenden Zügen, quietschenden Rädern, vom metallischen Klacken der Anzeigetafeln. All das vermischte sich zu einem gewaltigen unverständlichen Brausen, das aufwirbelte, nach oben schwirrte und zu dem gläsernen Dach emporstieg wie das Geräusch von Millionen Vögeln.
    Ich lief, so schnell ich konnte, durch die Bahnhofshalle – wich mal hierhin, mal dorthin aus, kämpfte gegen den Strom an – und schaffte es schließlich hinunter zur U-Bahn -Station. Auch hier wieder Gedrängel, gejagte Gesichter, Kakofonie. Ich ging weiter – durch die Fahrkartenschleuse, den Durchgang entlang, über die Brücke, die Treppe hinunter   –, dann war ich, nach einem Spurt in letzter Sekunde und einem atemberaubenden Sprung, nur noch ein zusätzliches Gesicht in einem Zug der Circle Line, der zurück in die Dunkelheit jagte.
    Schwer atmend lehnte ich mich gegen die Tür, wischte mir den kalten Schweiß vom Gesicht und schaute zu dem U-Bahn -Plan an der Wand hoch: Liverpool Street, Moorgate, Barbican, Farringdon, King’s Cross.
    Vier Stationen.
    Nicht mehr weit jetzt.
    Nicht mehr weit für den Jungen.
     
    Jedes Mal, wenn ich nach London fahre, ist es mir peinlich, in den Stadtplan gucken zu müssen. Ich weiß, es ist albern. Ich weiß, es gibt überhaupt keinen Grund, warum das peinlich sein soll. Es ist |10| bloß ein
Stadtplan
, verdammt noch mal. Wenn man nicht weiß, wohin, nimmt man doch einen Stadtplan, oder? Was ist daran verkehrt? Es ist völlig einleuchtend.
    Ich
weiß
das.
    Es ist nur   … keine Ahnung. Es hat einfach etwas mit Coolsein zu tun, nehme ich an. London ist cool. Die Londoner sind cool. Man will schließlich nicht für einen Dorftrottel gehalten werden, oder?
    Ja, ich weiß, das ist erbärmlich. Aber erbärmlich ist nicht so schlimm, oder? Ich meine, es gibt doch Schlimmeres auf der Welt, als erbärmlich zu sein.
    Jedenfalls hatte ich meinen Stadtplan, eingewickelt in einer Supermarkttüte, in meiner Jacke versteckt und deshalb wusste ich, als ich aus dem U-Bahnhof King’s Cross hinauf in die kalte Spätnachmittagsluft der City kam, nicht, wo ich war. Ich wusste, wo ich hätte sein sollen, und ich wusste, welchen Weg ich hätte einschlagen sollen, aber ich war nicht da rausgekommen, wo ich wollte, und hatte die Orientierung komplett verloren. Die Adresse, zu der ich hinmusste, lag in der Pentonville Road und ich wusste auch, wo die war, schließlich hatte ich vorher im Stadtplan nachgeschaut. Aber ich wusste nur, wo sie im Verhältnis zur Euston Road lag, die an der Vorderfront des Bahnhofs vorbeiführt, doch ich war nicht an der Bahnhofsfront rausgekommen, sondern irgendwo anders, durch einen Seitenausgang oder so. Und alles, was ich sah, wo immer ich auch hinguckte, war Chaos: Autos, Busse, Taxis, losdonnernde Motorräder, aufblitzende Lichter, Straßenarbeiten, Kräne, Bauplätze, Fußgängerüberwege,
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