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Menu d'amour

Menu d'amour

Titel: Menu d'amour
Autoren: Nicolas Barreau
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1
    Wenn man Georges Berechnungen glauben durfte, war es einer der dunkelsten Winter seit dem Krieg gewesen. Die Schatten spazierten in den Straßen von Paris und die Menschen sehnten sich nach dem Licht, wie ein junger Mann sich in die Arme seiner Liebsten sehnt. Im Kino spielte man Die Regenschirme von Cherbourg , die Beatles hatten im Olympia She loves you gesungen und ich hatte mich rettungslos in ein Mädchen verliebt, das so unerreichbar für mich war wie der Mond.
    Ich studierte damals Literatur im zweiten Semester und hatte gerade beschlossen, aus Enttäuschung so etwas wie ein zweiter William Butler Yeats zu werden, der in glühenden Gedichten seine Angebetete pries und auf diese Weise seine unerfüllte Liebe zu der schönen Maud Gonne unsterblich machte, als ich an einem regnerischen Nachmittag bei den Bouquinisten am Ufer der Seine einen Fund machte, der meine glanzvolle literarische Karriere verhindern sollte. Denn daraufhin passierte etwas Seltsames und Wunderbares. Etwas, das mich trunken vor Glück über den Mond taumeln ließ, noch bevor der erste Astronaut jemals seinen Fuß darauf setzte. Ich habe nie jemandem erzählt, was sich an jenem Abend wirklich ereignete. An jenem denkwürdigen Abend, als ich das Menu d’amour zum ersten Mal kochte, und der nun schon so viele Jahre zurückliegt. Die Einzige, die die ganze Wahrheit kannte, war die Katze meines Mitbewohners Georges. Doch diese konnte naturgemäß nicht sprechen, und so blieb das köstliche Geheimnis im Besitz meines Herzens. Am Ende bin ich doch kein William Butler Yeats geworden. Gott sei Dank.
    Meine Maud Gonne hieß Valérie Castel. Sie hatte blondes Haar und leuchtend blaue Augen, und wenn sie hereinkam, begann sich der Raum mit Licht zu füllen. Ihr Mund schien stets zu einem Lachen bereit, sie war voller Einfälle und spottete gern, und sie war gewiss kein Mädchen, das man einfach so übersehen hätte. Aber auch aus einem anderen Grund war es nahezu unmöglich, sie nicht zu bemerken. Valérie Castel war die unpünktlichste Person, die ich jemals kennengelernt habe. Sie kam immer zu spät. Zu jeder Vorlesung. In jedes Seminar. Und so ist sie mir damals auch aufgefallen. Weil sie zu spät kam.

2
    Professor Jean-Louis Caspari war in seinem Element. Seit zwanzig Minuten versuchte er mit eindringlichen Gesten und wortgewaltigen Sätzen seinen Zuhörern die französische Literatur zwischen Romantik und Realismus näherzubringen und erwartete doch nicht mehr, als dass jeder Student sich drei Sätze aus seiner Vorlesung merken sollte. »Wenn Sie drei Sätze mit nach Hause nehmen, bin ich schon zufrieden«, pflegte er zu sagen. Gerade war er bei einem seiner Lieblingsgedichte von Baudelaire angelangt, da wurde mit einer hastigen Bewegung die Tür zum Hörsaal aufgerissen. Atemlos und mit geröteten Wangen schlüpfte eine Studentin in einem hellblauen Wollmantel mit passender Kappe herein. Sie lächelte entschuldigend und wollte sich schon durch den Seitengang schieben, um sich in eine der Stuhlreihen zu setzen, als Jean-Louis Caspari seine Vorlesung unterbrach und von seinem kleinen Podest herunterstieg. Der alte Professor war dafür bekannt, dass er unpünktliche Studenten gern vorführte. Mit einer Behändigkeit, die seine Leibesfülle Lügen strafte, sprang er durch den Raum und baute sich vor der Nachzüglerin auf.
    »Wie schön, dass Sie meine Vorlesung besuchen, Mademoiselle …?« Er zog fragend die Augenbrauen hoch.
    »Castel. Valérie Castel«, sagte sie, und auf diese Weise erfuhr ich wie alle anderen im Saal ihren Namen.
    »Nun, Mademoiselle Castel«, Professor Caspari streckte ihr seine Hand entgegen, die sie zögernd ergriff, »ich begrüße Sie sehr herzlich hier bei uns.« Er machte eine ausholende Handbewegung, welche die etwa einhundertfünfzig Studenten mit einbezog, die den Dialog, der sich abseits des Vorlesungspults entspann, grinsend verfolgten. »Dummerweise hat meine Vorlesung schon seit …«, er kramte umständlich eine silberne Taschenuhr aus der Hosentasche hervor, »seit fünfundzwanzig Minuten begonnen. Ich hoffe, das stört Sie nicht?«
    Valérie Castel wurde rot, dann schenkte sie dem Professor ein reizendes Lächeln. »Aber nein«, sagte sie mit ihrer klaren Stimme, die bis in die letzte Reihe zu hören war. »Wenn es Sie nicht stört, Herr Professor, stört es mich auch nicht.« Ich sah das feine Zucken ihrer Mundwinkel.
    Die Studenten stießen sich an und tuschelten. Das war ganz schön frech, aber dann doch
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