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Engel aus Eis

Titel: Engel aus Eis
Autoren: Camilla L�ckberg
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I n der Stille waren nur die Fliegen zu hören. Das Surren ihrer hektischen Flügelschläge. Der Mann auf dem Stuhl dagegen rührte sich nicht und hatte das auch schon seit geraumer Zeit nicht getan. Eigentlich war er gar kein Mann mehr, jedenfalls nicht, wenn man sich darunter jemanden vorstellte, der lebte, atmete und fühlte. Er war nur noch Nahrung. Eine Herberge für Insekten und Larven.
    Fliegen in Massen umschwirrten die reglose Gestalt. Ab und zu ließen sie sich nieder. Kauwerkzeuge mahlten. Dann hoben die Insekten wieder ab und suchten surrend nach einem neuen Landeplatz. Sie tasteten sich vor und stießen zusammen. Rings um die Wunde am Kopf des Mannes war es besonders interessant. Der anfänglich metallische Blutgeruch war längst einem muffigeren und süßeren Duft gewichen.
    Das Blut war geronnen. Zu Beginn war es am Hinterkopf hinuntergeflossen, über die Rückenlehne gelaufen und auf den Fußboden getropft, wo es sich schließlich in einer Lache gesammelt hatte. Zuerst war es rot. Da war es noch voller lebender Blutkörperchen. Dann war es schwarz geworden. Nun konnte man nicht mehr erkennen, dass es sich um die Flüssigkeit handelte, die in den Adern eines Menschen fließt. Es war nur noch eine klebrige dunkle Masse.
    Einige Fliegen versuchten, ins Freie zu gelangen. Sie waren satt und zufrieden. Sie hatten ihre Eier gelegt. Die Kiefer hatten ihre Arbeit erledigt, und die Bäuche waren voll. Der Hunger war gestillt. Nun wollten sie hier raus. Sie schlugen mit den Flügeln an die Scheibe und bemühten sich vergeblich, die unsichtbare Barriere zu überwinden. Es klang wie leises Klopfen. Früher oder später gaben sie auf, weil sie wieder Hunger bekamen. Sie flogen dorthin, wo einst ein Mann gesessen hatte. Nun war nur noch totes Fleisch von ihm übrig.
    Den ganzen Sommer war Erica um das Thema herumgeschlichen, das ihr ständig durch den Kopf ging. Sie hatte das Für und Wider gegeneinander abgewogen und sich auf den Weg zum Dachboden gemacht, war aber immer nur bis zur Treppe gekommen. Sie hätte sich damit rechtfertigen können, dass in den letzten Monaten viel los gewesen war. Die Nachwehen der Hochzeit, das Chaos zu Hause, als Anna und die Kinder noch bei ihnen wohnten. Doch das war nicht die ganze Wahrheit. Sie hatte einfach Angst. Vor dem, was sie vielleicht entdecken würde. Angst, etwas aufzuwühlen. Möglicherweise würden Dinge ans Licht kommen, von denen sie lieber nichts wusste.
    Erica spürte, dass Patrik mehrmals kurz davor gewesen war, sie darauf anzusprechen. Er konnte nicht verstehen, warum sie die Bücher nicht las, die sie auf dem Dachboden gefunden hatten. Gefragt hatte er sie trotzdem nicht. Sie hätte auch keine Antwort gewusst. Am meisten Angst hatte sie wahrscheinlich, ihre Sicht der Dinge könnte sich als falsch herausstellen. Das Bild, das sie von ihrer Mutter und deren Verhalten den Töchtern gegenüber hatte, war nicht besonders positiv, aber immerhin hatte sie eins. Es war ihr vertraut und stand seit Jahren fest, wie eine unumstößliche Wahrheit. Vielleicht würde es bestätigt oder sogar noch deutlicher werden. Doch was, wenn es auf den Kopf gestellt würde? Wenn sie sich einer vollkommen neuen Wirklichkeit stellen müsste? Bis jetzt hatte ihr der Mut dazu gefehlt.
    Erica betrat die erste Treppenstufe. Unten im Wohnzimmer brachte Patrik die kleine Maja zum Lachen. Diese Töne waren so beruhigend, dass sie noch einen Fuß auf die Treppe setzte. Noch fünf Schritte, dann war sie oben.
    Als sie die Luke aufklappte und auf den Dachboden stieg, wirbelte Staub durch die Luft. Sie und Patrik wollten den Bodenirgendwann in ferner Zukunft, wenn Maja älter war und sich ein bisschen Abgeschiedenheit wünschte, gemütlich einrichten, aber bislang gab es hier oben nur rohe Holzdielen und nackte Dachbalken. Der Raum war halbvoll mit Gerümpel. Weihnachtsbaumschmuck, Kinderklamotten, aus denen Maja herausgewachsen war, und diverse Kisten voller Krempel, der für die Wohnräume zu hässlich, aber zum Wegwerfen zu schade war.
    Die Kiste stand hinten in der Ecke. Es war ein altes Modell aus Holz und Blech. Erica meinte sich zu erinnern, dass man diese Kisten Überseekoffer nannte. Sie setzte sich auf den Fußboden und strich sanft über den Deckel. Dann atmete sie tief durch, öffnete das Schloss und klappte die Kiste auf. Ein muffiger Geruch schlug ihr entgegen. Sie verzog das Gesicht und überlegte, woher dieser ganz bestimmte und schwere Geruch nach Alter rührte. Wahrscheinlich
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