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Bullenball

Bullenball

Titel: Bullenball
Autoren: Stefan Holtkötter
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zu
lassen in die Musik. Das Spiel in der Gruppe war für sie berauschend. Es war,
als würde sie gar nicht selbst spielen. Als würde sie mit ihrer Klarinette von
den anderen getragen. Da waren so viel Kraft und Bewegung und Stärke zu spüren,
dass sie glaubte, sich darin aufzulösen. Die Präsenz der Jazzband war in jedem
Winkel des Parks zu spüren. Sie fühlte sich beschützt, alles war sicher und
voller Liebe.
    Sie war so in die Musik versunken, dass sie erst gar nicht bemerkte,
wie Günter Ehlers sich zwischen zwei Stücken erneut ans Publikum wandte. Erst
nach Sekunden begriff sie, was passierte.
    »Sie werden bemerkt haben, dass heute eine gewisse Magie in der Luft
liegt. Meine Damen und Herren, das ist die Magie der Liebe. Amor hat seine
Pfeile in unserer Band verschossen, und ich freue mich ganz besonders, verkünden
zu dürfen, dass hier und heute eine Verlobung gefeiert wird.«
    Jule und Jonas mussten aufstehen. Der Schlosspark wurde erfüllt von
tosendem Applaus. Jonas zwinkerte ihr zu und grinste. Dann reckten sie sich
über die Saxofone hinweg und gaben sich einen Kuss. Jule ließ sich dabei vom
Applaus tragen. Und plötzlich fand sie es gar nicht mehr schlimm, im
Mittelpunkt zu stehen, ganz im Gegenteil. Dies war der Ort, an dem sie
glücklich war. Sie blickte auf eine wunderbare Zukunft, gemeinsam mit dem Mann,
den sie liebte. Neben ihr Marie und Uli, ihre besten Freundinnen, die immer für
sie da waren. Und dazu die Jazzband, die sich wie eine große Familie anfühlte.
    Dann war der Moment vorüber, Günter Ehlers gab den Takt vor, und es
ging weiter: »Fly Me to the Moon«. Ein Schlagzeug setzte ein, und schon warfen
sich die Blechbläser darüber, in einem ohrenbetäubenden Mollakkord, der Jule
mit der ganzen Schönheit und Traurigkeit des Liedes direkt ins Herz fuhr.
    Alles war perfekt, ihr ganzes Leben. Und eine Sekunde lang – während
sie mit erhitzten Wangen dasaß, erfasst von grenzenloser Dankbarkeit – glaubte
sie, ihre eigene Zukunft vorhersehen zu können. Es war wie ein nicht endender,
beglückender Rausch: Alles, was sie sah, war gut. Wie es jetzt war, würde es
immer weitergehen. Ihr stand ein wunderbares Leben bevor.
    Dichter Zigarettenqualm vernebelte die Luft. Das verdreckte Fenster
stand auf Kipp, dennoch zog kaum frische Luft herein. Nur klamme Kälte, die den
Rauch schal und abgestanden wirken ließ. Das Zimmer war vom bläulichen Licht
des Computerbildschirms erhellt. Ben hockte konzentriert davor. Seine Schultern
schmerzten, und die Augen brannten höllisch. Wenn er mit anderen im Internet
über Programmierungsprobleme diskutierte, verging die Zeit, ohne dass er es
bemerkte. Er lehnte sich zurück und massierte sich die Schultern.
    Sein Handy klingelte. Mit gerunzelter Stirn zog er das Gerät unter
einem leeren Pizzakarton hervor. Es war Jule, die beste Freundin seiner
Schwester Uli. Was konnte die von ihm wollen? Er zögerte, doch schließlich
siegte seine Neugier.
    Jule war auf einem Fest. Im Hintergrund ein Durcheinander von
Stimmen, dazu Tanzmusik und das plötzliche Auflachen einer Frau.
    »Wahrscheinlich weißt du noch nichts davon«, sagte sie, »aber Jonas
und ich werden heiraten. Ist das nicht unglaublich?«
    Jonas war sein Kumpel auf dem Anne-Frank-Gymnasium gewesen. Sie
stammten beide aus Brook, hatten einige Kurse zusammen belegt, und da war es
nur folgerichtig gewesen, dass sie sich angefreundet hatten. Seit Ben jedoch in
Münster wohnte, hatte er den Kontakt zu Jonas vernachlässigt. Inzwischen sahen
sie sich kaum noch, und Ben hätte nicht einmal sagen können, wann sie das
letzte Mal miteinander telefoniert hatten.
    »Wir heiraten erst mal nur standesamtlich. Das aber schon bald. In
knapp zwei Wochen nämlich!«
    »In zwei Wochen?«, fragte er lahm.
    »Ja, und die kirchliche Hochzeit wird im Sommer stattfinden. Mit
großem Fest und allem Drum und Dran. Die standesamtliche feiern wir nur im
kleinen Rahmen. Trotzdem wollen wir eine Verlobungsparty geben. Na ja, deshalb
rufe ich an.« Bevor Ben einen Kommentar loswerden konnte, beeilte sie sich
hinzuzufügen: »Ich weiß ja, was du davon hältst. Aber willst du nicht trotzdem
kommen? Alle werden kommen. Die Hälfte deines Jahrgangs vom
Anne-Frank-Gymnasium. Und natürlich die Leute von der Jazzband. Komm schon, da
gehörst du doch dazu.«
    Ben konnte nicht anders: Er musste lächeln. Das war typisch für
Jule. Wäre man böswillig, könnte man es Harmoniesucht nennen. Jule war in der
Lage, sich eine Parallelwelt
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