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Bullenball

Bullenball

Titel: Bullenball
Autoren: Stefan Holtkötter
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Tür hinter sich. Die Blumen legte sie
achtlos auf das leere Nebenbett, dann setzte sie sich zu ihm auf den
Matratzenrand.
    »Du weißt es schon?«, fragte sie voller Mitgefühl.
    Er nickte. »Jule. Sie …« Tränen füllten seine Augen.
    »Oh, Jonas. Es tut mir unendlich leid.«
    Er wandte den Blick ab. Zum Fenster, ins weiße Licht der Sonne.
Marie spürte, wie sich ein schwerer Stein auf ihr Herz legte. Sie trug die
Schuld an Jules Tod. Das war ihr Geheimnis, mit dem sie leben musste.
    Sie hatte Jule nicht absichtlich in den Kugelhagel gestoßen. Es war
einfach so passiert. Sie wollte nur Jonas retten. Egal, wo Jule jetzt war, sie
würde wissen, wie leid es ihr tat. Sie würde wissen, dass Marie das nicht
gewollt hatte.
    Jonas hatte seine Tränen mühsam weggezwinkert.
    »Die sagen, Marlon soll das gewesen sein?«
    »Ja, das stimmt.«
    »Kannst du das verstehen? Ich meine … Wieso macht der so etwas?
Wieso?«
    »Ich weiß es nicht.«
    Was letztlich zwar der Wahrheit entsprach, denn Marie verstand
tatsächlich nicht, was tief in seinem Innern der Grund für diese ausufernde
Gewalttat war. Trotzdem hatte sie bereits eine Ahnung gehabt, nachdem sie seine
Tagebücher gelesen hatte.
    Aber auch das würde sie für sich behalten. Ein weiteres Geheimnis.
Ben war ebenfalls unter den Toten. Keiner sonst wusste von dem Tagebuch, und
sie würde auch diesen Teil der Geschichte mit sich allein ausmachen.
    Am Morgen war Uli bei ihr aufgekreuzt. Sie hatte seit dem Amoklauf
nicht mehr geschlafen und hatte tiefe Ringe unter den Augen. Ihr Gesicht war
völlig aufgequollen. Als sie miteinander redeten, wirkte sie fahrig und
unkonzentriert. Sie stand offenbar noch unter Schock, wie so viele.
    »Ich weiß nichts über meinen Bruder«, sagte sie immer wieder. Und
dann, nachdem sie einen Tee getrunken hatte und ein wenig zur Ruhe gekommen
war: »Ich weiß nur, dass er mich gehasst hat. Genauso wie unseren Vater. Für
ihn waren wir alle Monster.«
    »Nein, das glaube ich nicht. Er war etwas eigen, das schon. Aber du
warst seine Schwester. Er hat dich nicht gehasst.«
    Doch Uli hatte gar nicht zugehört und einfach weitergeredet.
    »Es ist, als wäre ein Fremder gestorben. Ich weiß gar nichts über
sein Leben. Oder darüber, was er gedacht hat. Er war immer so unnahbar, schon
als Kind. Ich wünschte, ich hätte mehr über ihn gewusst. Vielleicht hätte ich
dann verstanden, weshalb er mich so sehr gehasst hat.«
    »Er hat dich nicht gehasst. Hör auf damit.«
    »Doch, das hat er. Wenn ich eines weiß, dann das. Das sagt mir mein
Gefühl.«
    Marie hatte nicht die Kraft gehabt, ihr das Ganze auszureden. Die
eigene Schuld war viel zu groß, da konnte sie sich nicht auch noch um die von
Uli kümmern.
    Neun Menschen waren gestorben. Marlon hatte sie kaltblütig
erschossen. Keiner war viel älter als zwanzig gewesen, sie hatten ihr ganzes
Leben noch vor sich gehabt. Außer Jule und Ben war Christoph, einer der
Saxofonisten aus der Jazzband, unter ihnen gewesen. Die anderen Toten waren
Fremde gewesen, die nicht zur Band gehörten.
    Jonas’ Stimme war fern und leise. »Was ging wohl in ihm vor?«
    »Wie bitte?«
    »In Marlon. Was waren seine Gründe? Wie muss es in ihm ausgesehen
haben? Wie konnte er zu so etwas fähig sein?«
    »Ich weiß nicht. Das werden wir wohl nie erfahren.«
    Er wandte ihr das Gesicht zu und betrachtete sie. Ein trauriges
Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Du hast mir das Leben gerettet, Marie.«
    »Ach, ich stand zufällig da und habe gehandelt, ohne nachzudenken.«
    »Spiel das nicht herunter. Ich stehe tief in deiner Schuld.«
    »Sag das nicht.«
    Er zog seinen Arm unterm Laken hervor und nahm ihre Hand. Die
Berührung elektrisierte sie. Im Licht der Herbstsonne wirkten seine Züge jetzt
weich und verletzlich. Er brauchte jemanden, der ihn beschützte, das war ganz
offensichtlich.
    Plötzlich tauchte ein Bild auf. Es gab eine Möglichkeit, ihre Schuld
zu begleichen. Sie würde Jules Platz einnehmen. Sich um Jonas kümmern und alles
tun, um ihn glücklich zu machen. Wenn sie ihr Leben dem von Jonas unterordnete,
war das vielleicht ein Weg, an dessen Ende Vergebung stünde. Sie musste ihn nur
stark genug lieben. Alles für ihn tun.
    »Marie …« Jonas lächelte. Er hielt noch immer ihre Hand. Marie
glaubte in seinen Augen Zuneigung und Dankbarkeit zu erkennen, eine Basis für
ihre gemeinsame Zukunft. Nichts überstürzen. Erst einmal Gras über die Sache
wachsen lassen. Trotzdem war da etwas in seinem Blick, das
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