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Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle

Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle

Titel: Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle
Autoren: Donna Leon
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sagen könnte, wie schmählich man sie übertölpelt hatte. Aber auch das würde ihm keine Linderung verschaffen, und so war er froh, daß der Inspektor fortblieb. Seine Unbesonnenheit war schuld; weil er unbedingt Cappellini verhören wollte, hatten die Filippis Zeit gehabt, sich ihre Geschichte zurechtzulegen, ja sie so raffiniert auszuschmücken, daß sie niemanden ungerührt lassen konnte. Hatten sie auch nur ein Klischee ausgelassen? Jungs sind nun mal Jungs. Meine Scham ist größer als meine Schuld. Oh, wir wollen der trauernden Mutter des armen Toten weiteres Leid ersparen.
    Brunetti fuhr herum und trat mit voller Wucht gegen die Tür. Aber weder der laute Krach noch der Schmerz in seinem Rücken bewirkten etwas, und er mußte sich damit abfinden, daß er nichts tun, nichts mehr ändern konnte, so schmerzlich das auch war.
    Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, daß er über dem Verhör völlig die Zeit vergessen hatte, auch wenn er an der Dunkelheit vor dem Fenster hätte abschätzen können, wie spät es war. Er hatte zwar nichts angeordnet, aber es gab keinen Grund, Filippi festzuhalten, und sicher hatte Vianello ihn bereits gehen lassen. Doch da Brunetti es nicht ertragen hätte, ihm, seinem Vater oder dem Anwalt noch einmal begegnen zu müssen, zwang er sich, weitere fünf Minuten mit geschlossenen Augen, den Kopf an die Tür gelehnt, zu verharren, bevor er nach unten ging.
    Aus Feigheit machte er einen Bogen um den Bereitschaftsraum, obwohl er unter der Tür Licht durchschimmern sah. Leise schlich er die Treppen hinunter, und draußen wandte er sich nach rechts, der Uferpromenade zu. Ein plötzliches Verlangen nach Trubel und Menschen bewog ihn, das Vaporetto zu nehmen, das um diese Zeit meist überfüllt war.
    Als er zum Anleger kam, fuhr gerade ein Boot ab, und in den zehn Minuten, die er auf das nächste warten mußte, hatte er Zeit, die Leute zu beobachten, die sich am embarcadero versammelten, in der Mehrzahl Venezianer wie er. An Bord gelangt, stellte er sich an die Reling und kehrte den prächtigen Fassaden der Palazzi den Rücken zu.
    Als er endlich vor seiner Wohnungstür stand, hielt er inne und hoffte, daß ihn drinnen ein verläßlicher Rest von Menschlichkeit empfangen möge. Was, wenn er zu einem Sohn wie Paolo heimkehren müßte? Wer außer seinem Erzeuger konnte stolz sein auf eine solche Ausgeburt? Brunetti öffnete die Tür und betrat die Wohnung.
    »Ich werde dir kein telefonino kaufen, weil diese Dinger euch nur verweichlichen und Menschen ohne Rückgrat heranziehen. Und du würdest damit noch abhängiger von uns, als du es sowieso schon bist«, hörte Brunetti Paola sagen und jauchzte innerlich über die herzlose Strenge, mit der sie ihren Kindern die sehnlichsten Wünsche verweigerte.
    Ihre Stimme kam aus der Küche, aber Brunetti ging geradewegs in Paolas Arbeitszimmer. Er war sicher, daß sie, deren Ohr durch jahrelanges Wachliegen und Lauschen auf die Schritte der heimkehrenden Kinder geschärft war, ihn gehört hatte und gewiß bald kommen und ihn suchen würde.
    So geschah es, und dann redeten sie. Oder vielmehr, er redete, und sie hörte zu. Nach einer langen Weile, als er alles erklärt und die Möglichkeiten aufgezählt hatte, die ihm offenstanden, fragte er: »Also?«
    »Die Toten können nicht mehr leiden« war alles, was sie sagte, eine Antwort, die ihn zunächst verwirrte.
    Doch da er an ihre Art zu denken gewöhnt war, ließ er sich den Satz eine Weile durch den Kopf gehen und fragte endlich: »Im Gegensatz zu den Lebenden?«
    Sie nickte.
    »Filippi und sein Vater«, sagte er und fügte hinzu: »die es weiß Gott verdient haben. Aber auch Moro und seine Frau.«
    »Und Tochter und Mutter«, ergänzte Paola, »die mehr als genug gelitten haben.«
    »Wird das jetzt ein Zahlenwettstreit?« fragte er nüchtern.
    Paola wischte den Einwurf mit einer ungeduldigen Geste beiseite. »Nein, nein, überhaupt nicht. Aber ich denke, man muß abwägen, wie viele Menschen betroffen sind und vor allem auch wie viel damit erreicht wird.«
    »Welche Möglichkeit ich auch wähle, bewirken tun sie beide nichts«, behauptete er.
    »Und welche wird weniger Schaden anrichten?«
    »Der Junge ist tot«, sagte Brunetti, »ganz gleich, wie das Gerichtsurteil lautet.« »Hier geht es nicht um das Urteil des Gerichts, Guido.«
    »Worum denn dann?«
    »Darum, was du den Eltern sagst.« Aus Paolas Mund klang es ganz selbstverständlich. Er hatte vor dem Gedanken zurückgescheut; fast wäre es ihm
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