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Stiefkinder der Sonne

Stiefkinder der Sonne

Titel: Stiefkinder der Sonne
Autoren: Edmund Cooper
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1
     
    7. Juli 1985. Zwei Uhr dreißig morgens. Warme Luft, die klaren Teile des Himmels sind mit Sternen besetzt, und die Themse windet sich lautlos durch Londons gedämpfte Geräusche wie eine schwarzsilberne Schlange.
    Zwei Uhr dreißig morgens. Leise flüstert ein Auto, wie Autos das in den feuchten Stunden der Dunkelheit zu tun pflegen. Ein Auto, darin ein Mann und eine Frau, unterwegs von Kingston nach Chelsea. Ein Mann und eine Frau, unterwegs vom Wohlstand zum Wohlstand. Ein Mann mit dem Wanst voller Elend und Einsamkeit und den kostbaren letzten Resten seiner Selbstachtung – mit Vollgas unterwegs zu einem schallgedämpften Niemandsland mit einem echten Picasso und den neuesten skandinavischen Möbeln …
    Matthew Greville, siebenundzwanzig Jahre alt, Ex-Mensch und Werbefachmann in dieser Stadt, war betrunken gewesen, und jetzt war er nüchtern. Dann und wann sah er beim Fahren seine Frau Pauline an und fragte sich, ob solche Nüchternheit ansteckend sein könnte. Offensichtlich nicht.
    Wo fing die Nüchternheit an, und wo hörte der Rausch auf? Vielleicht fing sie vor acht Meilen mit der Katze an. Die Katze war schwarz, fett und alt, und außerdem war sie – wie Pauline mit ruhiger Sicherheit bemerkte – offensichtlich von Todessehnsucht erfüllt. Sie war über die Straße gehuscht, als sei sie ein wildes Tier auf der Jagd nach Sex, Ratten oder möglicherweise nichts Handgreiflicherem als Visionen.
    Einen Augenblick lang hatte Greville die Wahl gehabt, hätte bremsen und ein hastiges Gebet zu dem Katzengott senden können. Er hatte die Zeit dazu gehabt, und er wollte auf die Bremse treten. Merkwürdigerweise jedoch war er dazu nicht in der Lage gewesen.
    Die Katze verschwand unter dem Auto. Es gab einen kurzen Schlag. Endlich gelang es Greville, seinen Fuß zu bewegen. Das Auto quietschte vorwurfsvoll und kam zum Stillstand.
    „Wozu soll das gut sein, wenn ich fragen darf?“ sagte Pauline sanft.
    „Ich habe eine Katze überfahren.“
    „Na und?“
    „Ich sollte besser nachsehen, ob das arme Vieh tot ist.“
    „Es gibt zu viele Katzen“, bemerkte Pauline. „Ist das denn so wichtig? Ich bin ziemlich müde.“
    „Es gibt zu viele Katzen“, stimmte er zu, „aber komischerweise ist es wichtig, und ich bin auch ziemlich müde.“
    „Jetzt werde bloß nicht rührselig, Liebling. Es war so eine nette Party. Mir steht der Sinn nicht nach selbstmörderischen Katzen.“
    Plötzlich war Greville angewidert – von sich selbst. „Dauert nur eine Minute.“
    Er stieg aus dem Auto und warf die Tür hinter sich zu.
    Er fand die Katze nach ungefähr dreißig Yards. Sie war nicht tot. Sie war an den Straßenrand gerollt. Ihr Rückgrat war entsetzlich verdreht, aber es war kein Blut zu sehen.
    „Stirb, bitte stirb“, murmelte Greville. Er schämte sich, kniete sich hin und streichelte den Kopf der Katze. Sie schüttelte sich ein wenig und drückte ihren Kopf gegen seine Hand, die sie voll Blut schmierte. Sie schien für seine Aufmerksamkeit rührend dankbar zu sein.
    „Mieze, bitte, bitte stirb“, flehte er sie an.
    Die Katze jedoch hing hartnäckig am Leben. Dann kam der Schmerz und brachte dünne, blubbernde Schreie mit sich.
    Greville konnte es nicht mehr länger aushalten. Er schob seine Hand unter das Tier und hob es plötzlich hoch. Es gab noch einen letzten Schmerzensschrei, bevor er mit der Kante seiner anderen Hand mit der ganzen Kraft, die ihm zur Verfügung stand, zuschlug. Die Wucht seines Schlags riß ihm die Katze aus der Hand und beförderte sie wieder in den Rinnstein. Ihr Genick aber war gebrochen, und nach ein paar Zuckungen war sie still.
    Er stand noch einige Augenblicke zitternd da. Dann ging er zum Auto zurück.
    „Ich nehme an, du hast das Tier gefunden?“ sagte Pauline kalt.
    „Sie war ziemlich übel zugerichtet. Ich – ich mußte sie umbringen.“
    „Mußtest du das! Na, so was! Dann rühr mich um Himmels willen nicht an, bis du gebadet hast … Du mußt wegen jedem Dreck eine Show abziehen, nicht wahr, Liebling?“
    Er sagte nichts. Er setzte sich in den Fahrersitz und drehte den Zündschlüssel herum. Nach ein paar Minuten stellte er überrascht fest, daß er mit weniger als vierzig Meilen in der Stunde auf der Straße entlangkroch. Aber das kam vielleicht daher, weil er allmählich nüchtern wurde.
    Oder weil er ertrank …
    Man nimmt von Leuten, die ertrinken, normalerweise an, daß ihr Leben noch einmal an ihnen vorüberzieht. Daher, so folgerte Greville, ertrank er
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