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Brüder und Schwestern

Brüder und Schwestern

Titel: Brüder und Schwestern
Autoren: B Meinhardt
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schwieg. Die Ahnung einer Katastrophe überkam sie, aber ihr Respekt vor dem Alten war groß, so warteten sie ab. Er würde schon etwas tun, würde ihnen, wenn es wirklich not tat, ein Signal geben. Und jetzt, da das Wasser die Wiesen und Wege links und rechts der Schorba regelrecht zu überfluten drohte, gab er es: Na los, rief er ohne eine Spur Hektik, ran an den Bau, reißen wir ihn ein. Er knüpfte, mit nicht mehr als zwei, drei Handgriffen, die Drähte auf und sprang aus dem Wasser, das nun wild zu schäumen und zu strudeln begann und erst den Reisig und bald die Pfähle mit sich riß, das komplette Gitter seines Gefängnisses.
    »… wir alle sind ärmer geworden, seitdem Rudolf Werchow nicht mehr ist«, der Redner nahm seine Hände vom Pult, führte sie vor seinem Gemächt zusammen, streifte mit seinem Blick die Scheitel der Sitzenden, mit einem Wort, zeigte jedem das nahe Ende seines Vortrags an, »doch um es mit Karl Marx zu sagen: Mag das Leben sterben, der Tod darf nicht leben. Und so wollen wir zutiefst dankbar sein, daß es Rudolf Werchow gegeben hat. Wir tragen ja mit uns, was er uns durch sein Wesen und durch seine Taten geschenkt hat. Er wird weiterleben, in unseren Herzen und unseren Erinnerungen …«
    *
    Der Sarg wurde in die Erde gelassen. Er war aus Eichenholz und hatte Griffe aus Goldimitat, alles recht gewöhnlich. Auf dem Deckel aber prangte ein mit weißer Farbe gemaltes Fernrohr. Rudi hatte sich das, als er seine letzten Atemzüge tat, ausbedungen, und als Willy sich recht verblüfft zeigte und Anstalten machte, es seinem Vater auszureden, konnte der seine Worte zwar nur noch mit Mühe sprechen, legte aber, ein letztes Mal, alle Konsequenz in sie: »Ich wünsche das. Du wirst mir diese Bitte erfüllen. Ich bin beinahe mein ganzes Leben daran beteiligt gewesen, solche Geräte anzufertigen, und alle haben funktioniert, das ist das eine. Das andere, mein Sohn, ist, daß ich damit bald auf euch runtergucken kann. Du lächelst. Du hältst das für einen Scherz des Alten. Ist auch einer. Aber nicht nur. Es ist ein bißchen mehr, Willy. Ich habe nie ans Weiterleben der Seele nach dem Tod oder an ähnliche Dinge geglaubt. Gelacht habe ich über Leute, die das tun. Und jetzt liege ich hier und tue es selber. Da staunst du, Junge. Das kennst du nicht von deinem Vater, stimmt’s? Aber ich habe Angst, daß tatsächlich nichts mehr kommt. Daß wahr ist, was ich immer gesagt habe. Auf einmal möchte ich, daß da oben noch irgendwas veranstaltet wird mit mir. Ich hätte nichts gegen Geschehnisse im Himmelreich, hörst du. Und gleichzeitig, mein Junge, sagen die Reste meines Verstandes, wie albern, wie enttäuschend. Folgt der Kerl jetzt der puren Erfindung, so schwach ist er geworden. Und weißt du was, ich muß meinem Verstand recht geben. Aber das Wissen um die Albernheit tötet mir trotzdem nicht die Verheißung. Ich bekenne mich dazu, und gleichzeitig schäme ich mich. Und deshalb will ich das Fernrohr. Als Ausdruck meiner Gespaltenheit. Wenn ich, oder ein nicht faßbarer Teil von mir, mal auf euch runterschauen kann, wenn das wirklich möglich ist, dann soll es durch dieses Rohr sein. Durch dieses vollkommen weltliche, von mir selber hergestellte Instrument. Du mußt diesen Wunsch nicht verstehen, Willy, aber du wirst ihn respektieren. Also ein Fernrohr, weiß, und schräg gestellt, so daß es nach unten zeigt, wenn es oben im Himmel hängt.«
    Willy trat auf die Holzbohle, die den Grubenrand bedeckte. Anders als insgeheim befürchtet, mußte er sich nicht zum Augenniederschlagen, zum Kopffallenlassen, zum Innehalten zwingen. Das Herz war ihm nun doch schwer. Er bückte sich langsam, streckte die Hand, in der er eine weiße Winteraster hielt, nach unten und öffnete vorsichtig die Finger, als könne er durch seine Achtsamkeit den Fall der Aster verkürzen und ihr hartes Aufschlagen vermeiden. Nach ihm Ruth. Ihre Winteraster rot. Sie hielt sie mit beiden Händen umklammert, umfaßte sie wie eine Wanderin die Brüstung der Aussichtsplattform, die ihr Schwindelgefühle verursacht. Und sie zitterte auch, während sie auf den Sarg schaute. Plötzlich entfuhr ihr ein hohes, sirenenhaftes Jaulen. Sie begann, mit ihren Stöckelschuhen unrhythmisch, rasend, furienhaft auf die Bohle zu trampeln, wollte sie Rudi wiedererwecken? Ihre Tritte klangen, als schieße jemand wild um sich. Dann, mitten in ihrem entsetzlichen Tanz, rutschte Ruth mit einem Fuß von der Bohle. Ihr anderes Bein knickte ein. Sie vermochte
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