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Bonita Avenue (German Edition)

Bonita Avenue (German Edition)

Titel: Bonita Avenue (German Edition)
Autoren: Peter Buwalda
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geschah. Wenn ein Hubbel oder ein überraschendes Geräusch Tineke Sigerius von der Aussicht ablenkte, spürte er, dass ihr Blick, ohne zu verweilen, über seine unruhige Gestalt hinwegglitt. Sie tat, als kennte sie ihn nicht . Auch sie saß in der Falle, schlussfolgerte er, auch sie wollte das nicht. Offenbar hatte sie sich zufällig ihm gegenüber hingesetzt, einfach nur froh, in dem überfüllten Sonntagabendzug noch einen Sitzplatz gefunden zu haben, und erst als sie in ihre Ecke gekauert dasaß, hatte sie ihn entdeckt. Mit Erleichterung musste sie bemerkt haben, dass er schlief, Glück im Unglück, das ihr die Möglichkeit gegeben hatte, zu Atem zu kommen und sich eine Strategie zurechtzulegen. Sie war in Lüttich eingestiegen, was er bemerkenswerter fand als die Tatsache, dass sie nach Brüssel fuhr. Was wollte Tineke Sigerius in Lüttich? Er hatte sie seit acht Jahren weder gesehen noch gesprochen, und in ihrem Leben konnte es alle möglichen Veränderungen gegeben haben. Vielleicht waren sie und Sigerius aus Enschede weggezogen, vielleicht war er inzwischen Europakommissar, und sie lebten in Belgien? Der Zufall erschien ihm überwältigend groß und ungerecht. Vielleicht hatten die beiden sich auch getrennt, und sie lebte allein dort? Bestimmt hatte sie einen anderen Schwiegersohn, einen wohlhabenden, erfolgreichen. In Selbstmitleid köchelnd, stellte er sich vor, dass Tineke nicht auf dem Weg nach Brüssel war, sondern nach Paris, der Stadt ihrer Enkel, wo Joni schon seit Jahren lebte und arbeitete (ihr amerikanisches Abenteuer konnte höchstens ein paar Jahre gedauert haben, meinte er) und zusammen mit irgendeinem Trottel eine Familie hatte, einem Kerl mit breitem Gesicht, schwarzen, zurückgekämmten Haaren und Platinmanschettenknöpfen – er sah ihn die lackierte Haustür öffnen und die Arme ausbreiten beim Anblick seiner Schwiegermutter auf der Eingangstreppe aus Granit.
    Oder irrte er sich? Er schaute kurz zum Fenster in der Hoffnung, dass sein Gewissen ihm einen Streich spielte. Nein, da saß Jonis Mutter. Aber wie mager sie war, sie wirkte regelrecht halbiert; ihre unglaublich schmalen Hüften umspannte eine braune Hose mit vornehmen Streifen, sie trug einen taillierten Blazer und darunter eine cremefarbene Bluse, an den Füßen Stiefel mit dünnen, eleganten Absätzen – die Tineke Sigerius von früher hätte die durch den Waggonboden gebohrt. Ihre halblangen Haare ergrauten nicht unvorteilhaft und umgaben in einer exakten Welle ihren seltsam eingezogenen Kopf, der etwas ausstrahlte, was die meisten Menschen als tatkräftig, unabhängig und wahrscheinlich sogar als sympathisch bezeichnet hätten, Charaktereigenschaften, an denen er jedoch bereits gezweifelt hatte, als sie gewissermaßen seine Schwiegermutter gewesen war: falsch, oder vielleicht auch einfach schnell beleidigt. Und jetzt kam die Wahrheit ans Licht: Mit dem Fett war auch die letzte Sanftheit verdampft, endgültig, so schien es. Obwohl sie an Fraulichkeit gewonnen hatte, wurde das Ergebnis durch ein Zuviel an schlaffer Haut im Bereich von Wangen und Kinn konterkariert, durch ihre schlabberigen, rosa geschminkten Augenlider, die enttäuscht über ihre Wimpern hingen. Sie sah giftig aus.
    Mitglieder der Familie Sigerius gehörten nicht in belgische Züge, sie gehörten nach Twente, wo er sie acht Jahre zuvor zurückgelassen hatte. Um genau solche Begegnungen zu vermeiden, hatte er sich aus dem Staub gemacht. Nicht etwa des guten Essens wegen war er nach Linkebeek gezogen, einen kleinen Ort kaum fünf Kilometer südlich von Brüssel, wo man, so hatte er es bis vor wenigen Minuten noch geglaubt, ebenso unbemerkt von vorne anfangen konnte wie in Asunción oder Montevideo. Er hatte sich sicher und unbeobachtet gewähnt, Linkebeek war ein Dorf mit mehr Bäumen als Einwohnern, und alles, was von Menschenhand dort krumm und schief errichtet worden war, wurde den Blicken durch rauschendes, knackendes, pochendes Holz entzogen.
    Heimlich richtete er sein Augenmerk auf Tinekes Hände. Sie lagen auf ihrem Schoß, sonderbar zierlich und knochig, deutlich strukturiert. Wie viele Tische, wie viele Stühle, wie viele Schränke waren aus diesen Händen inzwischen hervorgegangen? Jonis Mutter fertigte in ihrer Werkstatt hinter dem umgebauten Bauernhaus Möbel, damals jedenfalls, designartige Einrichtungsgegenstände, die für große Summen ihren Platz in Villen, Büros und Grachtenhäusern überall in den Niederlanden fanden. Jetzt nahm die eine Hand
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