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Bonita Avenue (German Edition)

Bonita Avenue (German Edition)

Titel: Bonita Avenue (German Edition)
Autoren: Peter Buwalda
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immer wieder einen Finger der anderen und zog kurz daran – verbissen, wie er fand.
    Sie waren einander nie sympathisch gewesen, er und diese Frau. Sie hatten sich nicht verstanden. Er erinnerte sich daran, wie er und Joni einmal im Bauernhaus übernachtet hatten. Wie so oft hatte er stundenlang wach gelegen und ein heftiges Verlangen nach Sigerius’ Weinkeller verspürt, und schließlich war er aus dem schmalen Gästebett aufgestanden und die Treppe hinuntergeschlichen, durch die kühle Diele hindurch ins Wohnzimmer. Von der Küche aus war er routiniert die knarrende Kellertreppe hinabgestiegen und hatte eine von Sigerius’ selbst abgefüllten Flaschen aus dem schmiedeeisernen Regal genommen, um sie, das war der Plan, auf der Anrichte zu entkorken und mit kräftigen Zügen so weit wie möglich zu leeren – in der Hoffnung, sich auf diese Weise die Kante zu geben. Doch als er die Kellertreppe wieder hinaufstieg, hörte er Schritte im Wohnzimmer, sodass er sich im Treppenaufgang verstecken musste. Jemand kam in die Küche, Schränke wurden geöffnet und wieder geschlossen. Auf Zehenspitzen hatte er um die Ecke gespäht, und was er sah, war erschreckend und wenig erfreulich: Sein Blick fiel auf einen abscheuerregenden Rücken, eine Bergwand, wie man sie in Naturfilmen über Südafrika oder die Prärien Arizonas sieht, doch dieses Massiv war aus Fleisch. Es war Tineke. Sechs mehr als deutlich sichtbare Speckrollen zählte er zwischen Achseln und Hinterteil, auf dem mittig eine Art orangefarbener Fetzen hing, als «Slip» konnte man ihn beim besten Willen nicht bezeichnen.
    Jonis Mutter öffnete einen Verpackungskarton und schüttete den Inhalt in ihren weit aufgerissenen Mund, die Hälfte fiel daneben, und Schokoladenstreusel regneten auf die Fliesen. Die Schachtel wurde geleert, leer gemahlen, und anschließend stopfte sie sie, zusammengefaltet, tief in den Mülleimer. Er erschrak vor dem fleischigen Rums, mit dem sie sich auf ihre Knie fallen ließ. Die verstreuten Schokoladenstreusel klebte sie mit Spucke an ihre Fingerspitzen und Handflächen. Seine Deckung hatte er inzwischen aufgegeben, und während sie ihre Hände, auf dem Boden kniend, ableckte, drehte sie plötzlich den Kopf um neunzig Grad und sah ihn an. «Hallo», sagte er, als beide sich vom ersten Schrecken erholt hatten. «Ich hatte Durst.» Sie erwiderte nichts, obwohl sie doch zumindest «Ich hatte Hunger» hätte sagen können, stattdessen richtete sie sich mühsam auf und schlurfte schweigend zur Küche hinaus, und erst als er von der Diele aus ihre Schlafzimmertür ins Schloss hatte fallen hören, war auch er wieder zu Bett gegangen.
    Und jetzt? Was könnten sie jetzt einander sagen? Für eine Szene, so redete er es sich selber ein, war der Zug zu voll, und darum malte er sich aus, wie eine beherrschte Variante davon verlaufen könnte. Wie geht es dir zurzeit, Aaron? Gott, welchen Widerwillen verspürte er bei dieser Frage. Lieber setzte er die Reise auf dem Dach des Intercitys fort, als eine ehrliche Antwort darauf zu geben. Das Wochenende hatte er bei seinen Eltern in Venlo verbracht, eine allmonatliche Übung, die er auf Anraten seines Arztes unternahm, so wie er alles auf Anraten seines Arztes machte. Es war ein Graus, zugeben zu müssen, dass er krank war, er fand es grauenhaft, dass er nicht ohne Neuroleptika und Antidepressiva auskam. Wie teilt man einem anderen mit, dass man nachweislich ein Irrer ist? Wie sollte er dieser Frau sagen, dass er wahnsinnig war? Tineke, ich bin ein Fall für den Psychiater.
    Nach dem Debakel in Enschede hatte er kurze Zeit für führende Zeitungen in Brüssel fotografiert, aber nachdem eine zweite schwere Psychose im Winter 2002 um ein Haar fatal für ihn verlaufen war, fanden er und seine Ärzte, dass es reichte. Seitdem klapperte er mit einem zum Fotolabor umgebauten VW-Bus Grundschulen in Brüssel, Beersel, Ukkel und Waterloo ab und machte Pass- und Klassenfotos. Von jedem Gruppenfoto fertigte er mit Hilfe einer Leuchtplatte ein mit Nummern versehenes Silhouettenbild an. Auf einer Website für Nachbestellungen, die er sorgfältig pflegte, konnten Väter, Mütter, Opas und Omas allerlei Formate, Rahmen und Bildunterschriften anklicken. Den Rest seiner Zeit, die Stunden, Tage, Wochen und Monate, während deren sich seine Altersgenossen fortpflanzten, Posten ergatterten, vielleicht sogar den Himmel erstürmten, verbummelte er, ging wie ein Rentner an Werktagen die moosigen Stufen zum Dorfplatz hinauf, kaufte
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