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Bonita Avenue (German Edition)

Bonita Avenue (German Edition)

Titel: Bonita Avenue (German Edition)
Autoren: Peter Buwalda
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wirklich so guter Dinge?
    Blaauwbroek hatte das richtige Gespür gehabt: Es wurde ein historischer Sonntagnachmittag für die Tubantia, zum ersten Mal in der hundertzwölfjährigen Geschichte der Regatta gewann ein Vierer mit Steuermann aus Enschede. Aaron stand auf der windigen Tribüne, als der Jubel um ihn herum ausbrach, eine Explosion aus heiseren Freudenschreien und knirschenden Plastikbierbechern, und weil Corpsstudenten sich immer gemäß der Tradition verhalten, zog der fanatische Kern der jungen Männer am Ufer blitzschnell die Kleider aus, um splitternackt zum Boot zu schwimmen – der Moment, als Aarons Blick auf den Rektor fiel, und was der tat, war alles andere als traditionell. Sigerius warf mit einer heftigen Bewegung seinen halbvollen Bierbecher ins Gras und überquerte die sumpfige Wiese in Richtung Ufer – Aaron war bereits von der Tribüne herabgestiegen und folgte, am Objektiv seiner Kamera drehend, dem Rektor, der sich grinsend seines Anzugs entledigte, alles zog er aus, das Hemd, die Socken, die Unterwäsche, alles bis auf den Schlips, einen Rudererschlips, natürlich hatte er sich eine Clubkrawatte aufschwatzen lassen, in jedem Lokal mit einer Schankgenehmigung war er Ehrenmitglied –, und kurz bevor er zum Kanal sprintete, um mit den Studenten hineinzuspringen, rief Aaron seinen Namen, «Sigerius!», und fotografierte ihn aus etwa vier Metern Entfernung, in voller Größe.
    Jonis Vater hatte recht, es war gute Arbeit, war ein in jeder Hinsicht phantastisches Foto. Es besaß Dynamik, der Mann, der das Bild füllte, stand auf den Fußballen, ruderte mit den Armen durch die Luft, und obwohl sein Oberkörper bereits auf dem Weg zum glitzernden Wasserband im Hintergrund zu sein schien, schaute er mit rufendem Mund und furiosem Blick in die Linse. Die Nachmittagssonne tauchte den nackten Körper in scharfes Streiflicht, die Komposition wirkte sorgfältig durchdacht: Sigerius’ ausgestreckte linke Hand deutete mehr oder weniger aufs Ruderboot auf dem Kanal in der Ferne, wie bei einem stilisierten Sportfoto, das griechisch-olympische Assoziationen weckt – doch das war lauter Fotografengeschwätz, es lag auf der Hand, warum die Tageszeitungen die Aufnahme haben mussten . Noch in Houten diskutierte er eine Viertelstunde lang mit einer PR-Frau der Tubantia University, die meinte, das Foto müsse unbedingt von der Presseabteilung genehmigt werden, was natürlich nicht passierte. Im Gegenteil, am nächsten Morgen wurde er in der Redaktion empfangen, als wäre er Robert Capa. «Natürlich bringe ich das Foto», schnaufte Blaauwbroek, «das schicke ich im Panzerwagen zur Druckerei, und wenn es sein muss, schlage ich neben der Druckerpresse mein Lager auf.»
    Seitdem tauchte der nackte Rektor überall auf: vergrößert über dem Tresen im Vereinsheim der Ruderer, auf T-Shirts eines studentischen Debattierclubs in der Stadt, auf dem Plakat für ein großes Sommerfest auf dem Campus. Aaron sah ihn auf Klotüren in Studentenwohnheimen. Und ob Zufall oder nicht, immer öfter war Sigerius Gegenstand wilder Spekulationen, bei den Burschenschaften am Oude Markt, bei Partys in den Wohnheimen auf dem Campus. Angeblich war der Rector magnificus zusammen mit Ruska durch die Sowjetunion und China nach Japan gereist und hatte unterwegs russische Gasthäuser kurz und klein geschlagen; war er nach seinem Durchbruch als Mathematiker in einer amerikanischen Irrenanstalt mit Elektroschocks behandelt worden; existierten Kinder aus einer früheren Ehe, die vollkommen verwahrlost aufgewachsen waren. Man brauchte sich das Foto nur etwas genauer anzusehen, und schon griff die Verwirrung vom Papier auf einen über. Jeder konnte erkennen, dass sich das, worauf Sigerius’ Ohren bereits verwiesen, unter den vornehmen zweiteiligen Anzügen – meistens dunkelblau, manchmal hellgrau oder mit Nadelstreifen – einfach fortsetzte, sich intensivierte; sein Körper, der so unschicklich enthüllt war, sah erschreckend zäh und sehnig aus, hart, unverwüstlich, «gestählt», um es mit einem Sportlerausdruck zu sagen. Man musste sich eine Meinung zu diesem Körper bilden, ebenso zu den deutlich sichtbaren Tätowierungen auf der linken Brust: Auf der Höhe von Sigerius’ Herz prangten in billiger dunkelblauer Seemannstinte zwei japanische Schriftzeichen – «Judo», wie Aaron wusste. Von diesen Brandmalen ging eine bestürzende Wirkung aus, denn Tätowierungen waren anno 1995 nicht nur ziemlich selten, sie galten schlicht als
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