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Bonita Avenue (German Edition)

Bonita Avenue (German Edition)

Titel: Bonita Avenue (German Edition)
Autoren: Peter Buwalda
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ordinär. Und doch passten sie perfekt zu Sigerius’ Körperlichkeit, zu dem Affenmenschen, der bei Sitzungen des Verwaltungsrats gern auf den Hinterbeinen seines Stuhls kippelte, bis er sich am Tischrand festhalten musste, und in Kaffeepausen seine Arme wie ein Trapezkünstler in den Schultergelenken rotieren ließ, sich dabei umsehend, als wollte er seine Gesprächspartner noch vor Beginn der nächsten Verhandlungsrunde verprügeln – dunkle Schlüssellöcher waren das, durch die der Campus einen kurzen Blick auf den früheren Sigerius werfen konnte, den Rabauken, den Kraftprotz, der seine Jungenbuchkarriere mit zwei Europameistertiteln im Judo begonnen hatte, den Raufbold, für den die Olympischen Spiele in München der Höhepunkt seines Lebens hätten werden sollen.
    In Interviews war zu lesen, dass ihr Rektor genau wie Ruska 1972 Medaillenfavorit gewesen war, aber knapp einen Monat vor Beginn der Spiele das Schicksal zugeschlagen hatte: Um eine Puddingschnecke zu kaufen, hatte Sigerius in Utrecht die Biltstraat überquert, und mit dem Vorgeschmack der zarten Creme im Mund wurde er von einem Motorroller erfasst, dessen eisernes Trittbrett sich quer über seinen Unterschenkel schob: knack, Ende der Karriere als Spitzensportler. Was alle Journalisten, Studenten und Wissenschaftler immer wieder beschäftigte, war die Theorie, dass sich ohne diese nie gegessene Puddingschnecke das wirkliche Wunder in Sigerius’ Laufbahn nie vollzogen hätte. Das Wunder der Antonius Matthaeuslaan, so nannte er selbst es nach der Utrechter Straße, in der er acht Monate lang, bis zur Leiste eingegipst, in einer kleinen Wohnung im Obergeschoss auf einem Bett gelegen hatte. Im dunklen Winter nach den Spielen von 1972 zog Jonis Vater, gebrochen und am Boden zerstört, aus einer Kiste mit Ausgaben der Boulevardzeitschriften Panorama und Libelle ein Aufgabenbuch der Niederländischen Mathematik-Olympiade hervor, das sich dorthin verirrt hatte, ein Büchlein voller überaus schwieriger Problemstellungen für überdurchschnittlich talentierte Gymnasiasten, und aus Langeweile rechnete er mit einem Bleistift auf dem Seitenrand daran herum. Am nächsten Morgen war er fertig.
    Was an diesem Tag genau passiert ist, welche Gartentüren sich in Sigerius’ traumatisiertem Sportlerhirn schlagartig öffneten, das ließ sich nur erraten; Fakt aber war, dass er nach nur drei Jahren an der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät in Utrecht sein Studium mit Auszeichnung abschloss, erschreckend brillant promovierte und Anfang der achtziger Jahre mit seiner Familie nach Berkeley, Kalifornien, zog. Und da dann doch noch olympische Gipfel erklomm: In der knot theory , einem Zweig der Mathematik, der zu ergründen versucht, auf wie viele verschiedene Arten ein Tau geknotet sein kann – kürzer und einfacher konnte man seine Arbeit nicht zusammenfassen –, erzwang der Ramanujan aus dem Utrechter Stadtteil Tuinwijk einen Durchbruch, für den ihm 1986 während des alle vier Jahre stattfindenden Kongresses der International Mathematical Union die Fields-Medaille verliehen wurde.
     
    Das alles schoss Aaron durch den Kopf, als er die Frau ihm gegenüber erkannte. Trotz ihrer Metamorphose wusste er augenblicklich, wer sie war. Auf dem Platz schräg vor ihm, neben einem Mädchen in einem ziegelroten Kostüm irgendeiner Ladenkette, saß Jonis Mutter. Ein stroboskopisch weißes Licht des Schreckens blendete ihn.
    Er war aus einem traumlosen Dösen aufgeschreckt, doch obwohl er immer noch im Schnellzug nach Brüssel saß, Lüttich lag inzwischen hinter ihnen, hatte sich seine Situation während der letzten halben Stunde, die er geschlafen hatte, dramatisch verändert. Der Waggon war jetzt voller Menschen, das Sonntagabendlicht, das durch die Abteilfenster fiel, schien mit Blei beschwert; es war belgisches Licht, gebrochen und getrübt durch die leicht abfallende Landschaft. Tineke Sigerius lehnte, wie er in dem Sekundenbruchteil, den er zu ihr hinübersah, bemerkte, mit ihrer Schläfe am Abteilfenster und starrte abwesend auf die sich wegdrehenden Hügel und Kirchdörfer Walloniens. Sein erster Reflex war fliehen, abhauen, aber den Fluchtweg versperrten Passagiere – aufstehen und zum anderen Ende des Zugs gehen war praktisch unmöglich. Sein Körper benahm sich, als stürmte er in blinder Panik einen steilen Hügel hinauf. So saß er minutenlang da, schwitzend, schnell atmend, sich selbst zur Ruhe ermahnend, in Erwartung der Konfrontation.
    Nichts
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