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Blutsbrüder

Blutsbrüder

Titel: Blutsbrüder
Autoren: Ravensburger
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in der Dunkelheit niemanden bemerkt, keine Bewegung, kein hastiges Huschen, nur die Gruppe, seine Freunde, auf einen Lokschuppen zulaufen sieht, atmet er auf und folgt den anderen über die rostigen Gleise, die von Büschen und Birken überwuchert sind.
    ***
    Sie sind eine Weile gerannt, haben einen Kanal überquert, hasten über einen Steg, als lauere auch hier, ohne Ausweg nach rechts oder links, eine Gefahr, und warten nun an einer Haltestelle auf den nächsten Nachtbus.
    »Ist besser«, sagt Jan-Niklas, »wir schlagen auf dem Heimweg einen größeren Bogen. Sicherer, denke ich. Falls uns irgendwer folgt.«
    Keiner widerspricht. Allen scheint der Schreck über das Vorgefallene die Sprache verschlagen zu haben.
    Ringsum Industrieanlagen. Der Duft nach Schokolade aus den nahen Fabriken. Kaum geparkte Autos an den Straßenrändern. Selten passiert ein einzelner Wagen die Gruppe, die ihre mit Kleister verschmierten Sweatshirts und Handschuhe in Müllkörbe geworfen hat und die nu n – eine Idee von Jan-Nikla s – unauffällig aussieht, als käme sie von der Spätschicht.
    Gewöhnlich denkt Darius nicht über sich und seine Gefühle nach. Gewöhnlich wartet er nur, dass die Tage bis zu seinem achtzehnten Geburtstag vergehen, achtet darauf, seinen Vater weder zu reizen noch ihn merken zu lassen, dass er seit einigen Monaten über eigenes Geld verfügt. Er konzentriert sich auf die Schule, die ihm jetzt weniger Mühe bereitet als in der Unter- und Mittelstufe des Gymnasiums, versäumt kein Treffen der Gruppe, beteiligt sich dabei kaum an den politischen Diskussionen und fühlt sich dennoch auf angenehme Weise bei den Freunden aufgehoben.
    Während der Zeit bis zu seinem Geburtstag bereitet er heimlich seinen Auszug vor, verwirklicht einen Plan, den er nach Erhalt des Bafög-Bescheides gefasst und von dem er noch niemandem erzählt hat, schon gar nicht seinem Vater. Wenn alles geregelt ist, lade ich die Freunde ein und wir feiern ein Fes t – aber erst dann, denkt er.
    Mit sechzehn hat er sich einen Pass besorgt, hat, wie beim Bafög-Antrag, die Unterschrift seines Vaters gefälscht, um ein Girokonto zu eröffnen, und hat mittlerweile ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft in Aussicht: vage, aber immerhin. Inzwischen kennt er die Paragrafen sämtlicher Gesetz e – die, die ihm helfen, und die, die seinem Vater eine Handhabe einräumen. Darius ist sich sicher, an alles gedacht zu haben. Gefühle wären da nur hinderlich.
    Trotzdem spürt er eine seltsame Sehnsucht nach Rike, denkt an den Blick, mit dem sie ihn gemustert hat, nicht hart, sondern weich, fast melancholisch.
    Unwillig verscheucht Darius den Gedanken. Das ist vorbei, denkt er, sie hat sich entschieden: für ihre Nazifreunde.
    Er schüttelt den Kopf und versucht, Rikes Gesicht rasch zu vergessen.
    Doch kaum ist ihr Bild verblasst, fällt ihm Alinas Vorwurf ein, den sie vor Kurzem gegen ihn erhoben und der ihn tiefer getroffen hat, als sie sich hat vorstellen können. Eine zweite Erinnerung, die er nicht zulassen möchte und die er dennoch nicht verdrängen kann.
    Er sieht sich wieder neben ihr im Biologieraum stehen, vor sich den Fisch, den sie sezieren sollen. Während um ihn her die Schüler »iih!« sagen und »oh« und »äh, wie eklig«, spürt er eine große Ruhe, die er bisher nicht gekannt hat. Er öffnet den Leib des Fisches mit dem Skalpell und breitet die Innereien säuberlich auf dem Tisch vor sich und Alina aus. Bis sie leise sagt: »Du machst das alles s o … so kalt. Hast du keine Gefühle?«
    Vielleicht hätte er ihr seine Gefühle wirklich gern geschildert, im Grunde hätte er mit niemandem lieber über seine Gefühle gesprochen: Gefühle gegenüber seinem Vater und gegenüber der Welt, mit der er sich abfinden muss. Vielleicht hätte er ihr in einem ruhigen Augenblick davon erzählen können, ohne Jan-Niklas zum Beispiel. Aber sicher nicht in einem Biologieraum zwischen all den Schülern und ihren »Iihs« und »Ähs«.
    Und schon gar nicht, als Alina hinzugefügt hat: »Weißt du, Darius, manchmal denke ich, du bist dir selber nichts wert. Nur darum ist dir alles egal. Darum kannst du so ruhig an diesem Fisch rumschneiden und ihm das Herz und die Augen rauspulen.«
    Für einen Moment ist sich Darius wie ertappt vorgekommen. Doch dann hat die Lehrerin gesagt: »Da müsst ihr nicht so penibel tun, auch nicht die Mädchen! Und, ja, Darius macht das sehr gut. Hakan übrigens auch.«
    Vielleicht liegt es an der Stille, an der Art, wie die Gruppe
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