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Blutsbrüder

Blutsbrüder

Titel: Blutsbrüder
Autoren: Ravensburger
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in sich gekehrt auf den Nachtbus wartet, jeder beschäftigt mit den eigenen Gedanken, mit der Ahnung, dass der Zwischenfall etwas verändern wird, auch zwischen ihnen, mit dem Wissen, dass eine Bedrohung sichtbar geworden ist, die vorher schon vorhanden war, die sich aber noch nie so deutlich gezeigt hat. Vielleicht liegt es an Darius’ Vermutung, dass die Gruppe bald etwas zur Sprache bringen wird, das seit den Schüssen auf dem S-Bahnhof spürbar ist und die Atmosphäre getrübt ha t – vielleicht liegt es an alldem zusammen, dass Darius seine Gedanken nicht so gut wie sonst beiseiteschieben kann, dass er darüber nachgrübelt, was ihn seit jeher von den anderen trennt: von allen, bis auf Hakan.
    Er versucht zu lächeln. Aber es misslingt.
    Schließlich sagt Jan-Niklas leise: »Wir hatten eine Vereinbarung, einen Kodex, dem alle zugestimmt, auf den wir uns verlassen haben. Wir hatten uns darauf geeinigt: keine Waffen. Keine Baseballschläger, keine Teleskopschlagstöcke. Keine Schlagringe, gar nichts. Schon gar keine Pistolen. Das geht nicht.«
    »War nur Signalmunition.«
    Während Darius dem matten Klang der eigenen Stimme nachlauscht, kommt er sich vor, als habe er gerade seine Schuld eingestanden. Gleichzeitig spürt er einen kaum zu beherrschenden Zorn. Wer hat euch, denkt er, denn den Arsch gerettet? Kodex, schön und gu t – bloß wo wärt ihr jetzt ohne mich?
    Nur um sich im nächsten Augenblick zu fragen, ob die Schießerei, die Pistole, sein Auftritt auf dem Bahnhof, ob das alles wirklich nötig gewesen ist.
    Als spüre Jan-Niklas Darius’ Unsicherheit, setzt er mit schriller Stimme nach: »Und beim nächsten Mal eine scharfe Waffe? Vielleicht eine Kalaschnikow? Die du zufällig dabeihast?«
    Was weißt du von Waffen, denkt Darius, noch immer ärgerlich, was weißt du überhaupt von der Gewalt? Er betrachtet die anderen, wartet auf ein Zeichen von Hakan, das ausbleibt, und lässt sich Zeit mit der Antwort.
    Er mustert Cora, die sich müde auf Marvins Schoß gehockt hat und der Diskussion kaum folg t –
    Marvin, der abwesend und völlig erschöpft wirk t –
    Tomtom, der zwar nickt, aber dem eigenen Nicken keinen rechten Glauben schenk t –
    Simon, der Darius seltsam herausfordernd ansieht, dann aber sofort wegschau t –
    Alina, die matt hinzufügt: »Kodex, ja schon, aber andererseit s …«, und sich dafür sofort zu schämen schein t –
    Hakan, der Alina und die anderen mustert, der Darius schließlich anblickt und sagt: »Die hätten uns zerlegt, in kleine Teile.«
    Immerhin einer, denkt Darius, der die Dinge klar sieht.
    Doch ehe er eine Antwort geben kann, beendet der sich nähernde Nachtbus die weitere Diskussion.
    Langsam steigen sie aus. Der Nachtbus ruckt an und verschwindet. Menschenleere Straßen. Während der Fahrt haben sie geschwiegen.
    Im Rücken der Gruppe ein Viertel, in dem vor allem Araber wohnen. Libanesen, sagt die Meldebehörde. Clans, schreiben die Zeitungen. Hoher Anteil an Intensivtätern, meint die Polizei.
    Ungefähr zwei Uhr morgens.
    Vor ihnen Fassaden, die lange nicht renoviert worden sind. Der graue Putz der Einflugschneise. Hinter den Häusern sind die gekappten Pappeln einer Grünanlage zu erkennen, die das Viertel gegen den nahen Flughafen abschließt. In der Luft liegt der Chlorgeruch des Columbiabades mit Erlebnisrutsche und Zehnmetersprunganlage. Das Licht einer Landebahn wird an- und wieder ausgeschaltet. Vorm Himmel der diffuse Strahl eines regelmäßig rotierenden Signalscheinwerfers. Dahinter das weiße Minarett der Moschee neben dem muslimischen Friedhof.
    Auf der anderen Seite des Flughafens, jenseits des Parks und der Bezirksgrenze, befindet sich das Viertel, in dem sie zu Hause sind. Ein Quartier, in dem kaum Araber, aber viele Türken wohnen und das ihnen im Gegensatz zu den Straßenzügen nahe der Nachtbushaltestelle vertraut ist.
    Jetzt schlagen die Glocken einer katholischen Kirche, die schwarz und mächtig in dem großen Park steht, der die Quartiere voneinander trennt.
    Die Kirche, an die sich die vatikanische Botschaft anschließt, wirkt wie ein gestrandetes Schiff. Manchmal fühlt sich Darius, wenn er daran vorbeiläuft, an eine Trutzburg erinnert oder an eine verlorene Insel. Ein Gebäude, das trotzig in eine Gegend gesetzt ist, in die es schon lange nicht mehr gehört.
    Im Park regieren die afrikanischen Dealer, die sich gegen die Türken und Araber durchgesetzt haben. Meist erst gegen Mittag bunkern sie ihren Stoff in den Erddepots unter den
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