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Blutsbrüder

Blutsbrüder

Titel: Blutsbrüder
Autoren: Ravensburger
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zum Schweigen, bevor sie den Mund aufmachen kann.
    Stück für Stück tastet sich Darius zurück, wagt keinen Blick über die Schulter, lässt den Riesen nicht aus den Augen. Er ahnt das Ende des Zuges in seinem Rücken, sieht, wie die Fahrgäste verbissen ihre Zeitung und ihre Finger inspizieren, weiß, dass er dem Skinhead nicht entkommen kann.
    Weiß auch, dass der Riese nicht warten wird, bis der Schluss des Zuges, der letzte Waggon erreicht ist. Weiß, dass er früher zuschlagen wird, dass er die Instinkte des Schlägers besitzt. Eines Schlägers, der nicht wartet, bis er den Gegner, die Ratte, in die Enge getrieben hat.
    All das nimmt Darius wahr wie einen Geruch.
    Der Riese packt in einer raschen, aber, weil die S-Bahn über eine Weiche ruckelt, ungenauen Bewegung mit der rechten und, zeitversetzt, der linken Hand die Handläufe in Kopfhöhe und schließt die Finger fest um das Metall. Darius ahnt, was ihn erwartet. Im selben Augenblick spürt er knapp hinter sich Hakan und ist erleichtert.
    Kaum ist der mächtige Mann abgesprungen und schwingt die Füße nach vorn, weichen Darius und Hakan nach verschiedenen Seiten aus, packen je einen Fuß und reißen die Hände des Hünen, indem sie den Schwung des Skinheads nutzen, mit einem Ruck vom Metall.
    »Aber Jungens«, sagt eine ältere Frau und wiederholt mit kläglicher Stimme: »Aber Jungens.«
    Der Riese schlägt mit Kopf und Körper auf den Wagenboden. Darius ist über ihm, bevor er reagieren kann. Bemerkt, ehe er zuschlägt, dass sein Gegner ohne Bewusstsein ist und bloß noch hilflos japst, weil ihm der Aufprall den Atem aus der Lunge geschlagen hat. Er überlässt ihn Hakan, stürzt sich auf den Begleiter, reißt dessen Maske herunter und murmelt verwundert: »Ein Weib.«
    »Hallo«, sagt das Mädchen, das sich nicht zu wehren versucht. »Schlag doch zu, du Arsch.«
    Rike, denkt Darius.
    Zu verblüfft, um etwas erwidern zu können, schlägt er nicht zu, hält inne, sieht an ihren Augen, dass auch sie ihn erkannt hat, dass sie ebenfalls schweigen wird, dass sie nicht vorhat, ihn bloßzustellen. Denkt: Sie hat sich verändert, ziemlich veränder t – aber sie ist genauso schön, eher noch schöner als damals.
    Er hat Rike, eigentlich Friederike, in einer Diskothek im Osten der Stadt getroffen, hat mit ihr getanzt, hat ihr geholfen, als jemand ihr dumm gekommen ist: »Scheiß Renee! Blöde Fascho-Braut!« Hat nicht einen Moment geglaubt, dass sie ein Nazimädchen sein könnte. Hat erst drei Wochen später mitbekommen, dass sie eng mit einer Skinhead-Clique befreundet ist, hat sich von ihr getrennt, ohne sie den Freunden je vorgestellt zu haben, war froh, dass niemand aus der Gruppe sie kennengelernt hat.
    Zu überrascht, um etwas zu sagen oder zu tun, bleibt Darius bei Rike hocken, starrt sie nur an. Trotzdem bemerkt anscheinend keiner der anderen, dass sie einander kennen. Zu aufgeladen ist die Situation im S-Bahn-Zug. Zu hektisch sind Zuschauer wie Beteiligte, zu beschäftigt die Einzelne n – Hakan, der auf dem Riesen kniet, der immer noch wie betäubt wirkt; Jan-Niklas, der verhindert, dass der Skinhead-Chef oder auch Rike »zusammengefaltet« (Simon), »alle gemacht« (Marvin) oder sonst wie zugerichtet werden; die Fahrgäste, die Entspannung wittern, die sich nun regen, sich bewegen, die anfangen zu tuscheln, Partei nehmen, Empörung in den eben noch ängstlichen Gesichtern; Cora, Tomtom und Alina, die die Fahrgäste im Auge behalten, sie zu beruhigen versuchen, die leise, aber nachdrücklich und mehrmals wiederholen: »Alles ist okay.«
    An der nächsten Station schieben Hakan und Darius Rike und den taumelnden Riesen hinaus auf den leeren Bahnsteig. Noch immer ist Darius verwirrt durch das unverhoffte Wiedersehen. Ausgerechnet sie, denkt er, ausgerechnet sie.
    Tomtom richtet sich ein letztes Mal an die Fahrgäste, indem er sagt: »Keiner hat was gesehen. Und alle packen ihr Handy wieder zurück in die Tasche.«
    Dann verlassen die Freunde den Zug auf der dem Bahnsteig abgewandten Seite und verschwinden auf einem kaum mehr genutzten Bahngelände im Gebüsch.
    Darius sieht, wie die S-Bahn die Station verlässt.
    Er erkennt, wie Rike sich über den Riesen beugt, der auf einer Bank liegt, und nimmt mit Erleichterung wahr, dass auf dem Bahnsteig keine Polizei auftaucht, die am Ende ihnen Ärger machen könnte, wegen der Pistole und der Schießerei.
    Als er auch keine Sirene hört, kein Motorengeräusch eines Polizeitransporters, als er sich umblickt und
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