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Blut und Rüben

Blut und Rüben

Titel: Blut und Rüben
Autoren: Uwe Voehl
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abzuwenden, musste ich wie hypnotisiert weiter hinschauen. In den Tiefen war Leben. Fliegen, die sich im Innern des Schädels gütlich taten.
    Mein Blick wanderte weiter nach unten. Die Nase war noch als solche zu erkennen, zumindest die Knochen. Vom Fleisch des Schädels war so gut wie nichts mehr vorhanden, genau wie von der linken Backe, aus der die Knochen herausschauten. Der lippenlose Mund zeigte zwei Reihen gebleckter Zähne. Dazwischen war ein kleiner schwarzer Metallgegenstand zu erkennen.
    »An den Zähnen werdet ihr sie erkennen«, dozierte Norbert, der meinen Blicken schweigend gefolgt war.
    Ich nickte. Und würgte. »Entschuldige mich«, ächzte ich. Ich ließ ihn stehen und schlug mich seitwärts in die Büsche, um mich zu übergeben. Mein Mageninhalt klatschte auf den lehmigen Boden. Regen tropfte von den Zweigen auf meinen Kopf. Spinnweben kitzelten meine Nase. Ich bemerkte, wie ein kleiner Käfer auf das Erbrochene zu kroch. Es war, als würde ich plötzlich alles viel genauer wahrnehmen. Wie durch eine große Lupe. Auch meine anderen Sinne schienen mir geschärfter als sonst. Ich vernahm die gedämpften Stimmen, die vom Tatort her zu mir herüberdrangen. Ich roch die feuchte Waldluft und vermochte die verschiedenen Gerüche auseinanderzuhalten. Doch unter den Gerüchen des Waldes nahm ich den Gestank des Todes wahr.
    Ich würgte erneut, aber diesmal kam nur noch Schleim. Mein Magen wand sich in Krämpfen. Ich ging auf die Knie und verfluchte mich dafür. Meine Jeans machte Bekanntschaft mit dem Boden. Die matschige Erde schien schmatzend nach dem Stoff zu schnappen und sich wie eine riesige Schnecke daran festzusaugen. Mit den Händen stützte ich mich ab. Sie fanden kaum Halt, versanken millimetertief in der feuchten Erde.
    Etwas Spitzes bohrte sich in meinen linken Handteller. Ich unterdrückte einen Schrei und zog die Hand reflexartig zurück.
    Ich wischte den Matsch ab und bemerkte eine fingergroße Wunde direkt dort, wo sich die M-Linien in meiner Hand kreuzten. Etwas Blut floss, aber nur ganz wenig. Die Wunde war nur oberflächlich.
    Ich fragte mich, was für eine Art von Tier sich in der feuchten Erde aufhielt und zubiss, wenn man ihm zu nahe kam. Eine Schlange? Ein Maulwurf? Oder doch nur ein Insekt?
    Oder war es etwas ganz anderes.
    Der Schmerz war jedenfalls auszuhalten. Meine Neugier nicht.
    Zumal sie half, gegen das Grauen anzugehen, das noch immer in mir tobte. Das war kein Tier! Ich musste kaum graben. Der Gegenstand war nur mit lockerer Erde bedeckt.
    Es handelte sich um ein flaches Metallstück. Es war verrostet, etwa zehn Zentimeter lang und geformt wie ein Z. Es sah aus wie ein zu Eisen erstarrter Blitz. Die Enden hatten spitze Widerhaken. An einem davon war Blut zu erkennen. Dem hatte ich meine Wunde zu verdanken.
    Vorsichtig packte ich das Gebilde mit Daumen und Zeigefinger. Das kalte Metall schien sich zu erwärmen, wurde plötzlich heißer und heißer. Ich kannte das Gefühl. Von früher. Ich hatte es lange nicht mehr gespürt. Die Dinge sprachen mit mir. Besonders, wenn Blut daran klebte. Ich war emphatisch.
    Es erinnerte mich an einen der dunkelsten Momente in meiner Vergangenheit. Damals war ich mit meiner besonderen Gabe zu spät gekommen. Seitdem sprach ich nicht mehr von einer Gabe, sondern von einem Fluch.
    Dennoch: Ich konnte nicht anders. Ich achtete nicht auf den Schmerz. Gleichzeitig hörte ich die Stimmen. Sie waren entfernt, aber dennoch konnte ich sie deutlich hören. Sie waren in meinem Kopf. Kehlige Laute in einer Sprache, die ich nicht kannte. Dann mischte sich der dumpfe Klang einer Trommel darunter. Eine Weile hörte ich zu, konzentrierte mich ganz darauf, bis ein Brandgeruch meine Nase kitzelte. Vor meinen Augen sah ich plötzlich ein Lagerfeuer entstehen. Ein großer Topf hing darüber. Eine mit Fell und Leder bekleidete Gestalt rührte mit einer riesigen Kelle darin herum. Im Hintergrund nahm ich weitere fellbekleidete Wesen wahr. Auch Tiere streunten hier herum. Riesige Hunde. Ein Säugling weinte.
    Für einen Moment gab ich mich ganz diesen fremden Eindrücken hin. Sie waren in keiner Weise beängstigend. Doch dann änderte sich die Szenerie ...
    Ich hätte fast aufgeschrien. Stattdessen biss ich mir auf die Zunge und steckte das Metallstück hastig in die Sakkotasche.
    Es geschah automatisch, ohne dass ich mir darüber Gedanken machte. Und ohne dass ich ein schlechtes Gewissen hatte.
    Dann kroch ich zurück, spürte kaum die nassen Zweige, die über
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