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Blinde Voegel

Blinde Voegel

Titel: Blinde Voegel
Autoren: Ursula Poznanski
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Scheinwerfer in Position. Kurz darauf schnitt ihr Licht eine blendend grelle Scheibe aus der Finsternis und legte jedes Detail des Todes frei. Beatrice konzentrierte sich wieder auf Drasche, der sich gerade den Händen der Frau widmete, erst die linke, dann die rechte untersuchte. Er betrachtete die gekrümmten Finger, hielt plötzlich inne und griff nach seiner Pinzette. Förderte etwas Dünnes, Weißes ans Licht, kaum größer als eine Briefmarke.
    «Ist das Papier?» Wenn man Drasche schon bei der Arbeit störte, war es Beatrices Erfahrung nach am erfolgversprechendsten, nur Ja- und Nein-Fragen zu stellen. Es funktionierte auch heute wieder, Drasche nickte und ließ den Papierschnipsel in einen kleinen Plastikbeutel fallen.
    «Steht etwas drauf?»
    Er sah kurz hoch, ungehaltene Querfalten auf der Stirn. «Nein. Diesmal keine Briefe an euch, wie es aussieht.»
    Beatrice ging bewusst nicht auf die Anspielung ein. Der Fall vom Frühjahr war ihr immer noch allzu präsent. Einiges, was damit in Zusammenhang stand, begleitete sie täglich in die Arbeit und zurück.
    Ein Stück leeres Papier also. Von einem größeren Blatt abgerissen, der Form und den Kanten nach zu schließen. Soweit sie die Senke überblickte, war dieses Blatt hier nirgendwo zu sehen.
    «Wir sollten uns um die Camper kümmern.» Florin war wieder neben sie getreten. «Die Campingplatzbesitzer befragen.» Er legte ihr eine Hand auf die Schulter.
    «Gleich.» Sie ließ Drasche nicht aus den Augen, wartete, bis er die Leiche zur Seite drehte. Auch hier nichts. Kein Papier.

    Sie erzählte Florin auf dem Weg zurück zum Campingplatz von dem Papierschnipsel. «Aber der Rest ist hier nirgendwo. Was die Frau zwischen den Fingern hatte, sah ganz klar so aus, als hätte sie es abgerissen, und das muss kurz vor ihrem Tod gewesen sein, sonst wäre der Schnipsel nicht mehr in ihrer Hand. Also gibt es zwei Möglichkeiten.» Beatrice stieg über einen dicken Ast, der quer auf dem Weg lag. «Erstens: Sie wurde an einem anderen Ort ermordet und hierher transportiert. Finde ich unwahrscheinlich, weil ein so kleines Stück Papier unterwegs ziemlich sicher verlorengegangen wäre.»
    Folgte Florin ihrer Argumentation? Er nickte. Gut.
    «Zweitens: Sie wurde hier im Wald getötet. Aber wo ist dann das Blatt, von dem sie das Stück abgerissen hat? Jemand hat es mitgenommen. Und damit haben wir einen weiteren Beteiligten. Einen potenziellen Mörder.»
    «Wind», sagte Florin.
    «Wie bitte?»
    Florin blieb stehen und lächelte sie an. «Wind, Bea. Papier fliegt davon, wenn der Wind es erfasst. Ich kann deine Gedanken nachvollziehen, aber du ziehst gerade sehr große Schlüsse aus einem sehr kleinen Papierfitzelchen.»
    Wie um ihn in seiner Argumentation zu unterstützen, kam eine leichte Brise auf und blies ihm die dunklen Strähnen aus der Stirn.
    Fortgeweht. Dann musste das Blatt im Wald noch zu finden sein. Irgendwo am Fuß eines Baums. Wenn das so war, würde es Drasche nicht entgehen.

    Die Besitzerin des Campingplatzes wartete an der Rezeption, einer dunklen, verschrammten Holztheke, auf der Stapel alter Zeitschriften lagen. Zwischen zwei gelb verfärbten Fingern hielt sie eine Zigarette, die sie am Rand eines überquellenden Aschenbechers ablegte, als sie Beatrice und Florin begrüßte. «Tut mir leid, ich rauche eigentlich nicht mehr.» Sie griff noch einmal nach der Zigarette und nahm einen tiefen Zug, bevor sie sie ausdrückte und den Aschenbecher zur Seite schob. «Aber ich bin völlig fertig. Meine Güte, so ein Drama, und ausgerechnet hier. Wenn jetzt nur nicht alle abreisen.»
    Ihre Augen wurden groß, und sie schlug sich die Hand vor den Mund. «Was sage ich denn da. Entschuldigen Sie bitte – viel schlimmer ist natürlich, was den beiden jungen Leuten passiert ist. Sie waren jung, oder?»
    «Ja.» Florin setzte das Lächeln auf, das Beatrice insgeheim sein Wolfslächeln nannte. «Sie können mir sicherlich die Anmeldeformulare aller Personen geben, die derzeit bei Ihnen campen?»
    Die Frau zögerte, dann nickte sie. «Aber es war bestimmt keiner von meinen Gästen.»
    Das Wolfslächeln vertiefte sich. «Interessant. Wie können Sie da so sicher sein?»
    Die Frau kratzte sich unsicher im Nacken. Sie trug das ergraute Haar kurz und praktisch , wie Beatrices Mutter es genannt hätte. «Na ja. Ich meine … die sind doch auf Urlaub hier. Zum Erholen.»
    Wie um Florins Blick zu entkommen, tauchte sie hinter ihrer Theke ab und förderte eine zerfledderte Mappe
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