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Black Bottom

Black Bottom

Titel: Black Bottom
Autoren: Martin Keune
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vielleicht sorgte nur die Kälte für ein paar winzig kleine Tränen in ihren Augenwinkeln, »damit du dir, was auch kommt, immer einen Tanz mit mir leisten kannst. Weißt ja den Preis, ten cents a dance.«
    Sie gab ihm einen Kuss, für den die Zeit nicht stillstand wie bei dem Schuss, den Belfort damals auf ihn abgegeben hatte, einen Kuss, der nur von eben bis jetzt dauerte; und dann war sie weg. Eine mächtige weiße Dampfwolke hüllte den Bahnsteig ein, zerfaserte im Zugwind, löste sich auf.
    Auch der Platz im Wartehäuschen war leer; die Zeitung war zusammengefaltet liegen geblieben, aber Sándor Lehmann rührte das Ding nicht an. Das war Politik; wenn man ihr fernblieb, kam sie vielleicht selbst auch nicht näher.

SÁNDOR LEHMANN
    Dann standen sie wieder auf der Bühne. Julian hatte die Band umgetauft, steuerte seichteres Fahrwasser an, wollte in Deckung bleiben mit gefälligen Arrangements für ein breiteres Publikum. »Julian Fuhs und sein Tanzorchester« machten Musik zum Schmunzeln, die allen gefiel; nur die unverbesserlichen »Swing-Heinis« wendeten sich von ihm ab und irrlichterten weiter durch die Stadt, fanden neue Hauptquartiere, kleinere Bands in engeren Bars, die wilden Hot Jazz machten und den neuen, original ameri kanischen Swing bis weit in die Nacht hinein. Julian ging andere Wege; und in der Band wurden die Soli immer kürzer. Walter Jurmann wurde zum Dauergast ihrer Auftritte, ein singender Refraintexter, ein talentierter, nicht mal dreißigjähriger Komponist und Arrangeur, der es auf frappierende Weise hinbekam, am laufenden Meter Ohrwürmer zu produzieren. Nach dem Konzert konnte man dem Mann selbst in der Kneipe und im Vollrausch ein Thema vorgeben, und aus dem Stegreif fabrizierte dieser Wunderknabe einen Song, den nach ein paar Minuten unter schallendem Gelächter der ganze Tisch sang und den man bis morgens nicht aus dem Ohr bekam.
    Sándor mochte Jurmann auf Anhieb nicht; der Kerl biederte sich beim Publikum auf eine antiquierte, schmalzige Weise an, die ihm gegen den Strich ging, und im Grunde war Jurmann nichts heilig. Nicht, dass ihm selbst, Sándor Lehmann, viel heilig gewesen wäre, aber die stetige Spottbereitschaft eines unterforderten Genies fand er schlichtweg anstrengend. Bei einem Konzert im Delphi hatte Arno Lewitsch, der Geiger, versucht, ihn mit Bella aufzuziehen; Jurmann hatte nur mit einem Ohr zugehört, und Sándor hatte den lästigen Violinisten verscheucht. Doch dann auf der Bühne hatten die ehemaligen »Follies« einen harmlosen kleinen Foxtrott angestimmt, bei dem Sándor zunächst noch gelangweilt mitgedudelt hatte, bis nach den ersten Solosätzen Walter Jurmann die Führung übernommen hatte. Unvermittelt hatte der Kerl mit blitzenden Augen vor ihm gestanden, die Arme in die Seiten gestemmt, tadelnd den Kopf geschüttelt und singend gefragt:
    Â»Herr Lehmann … Herr Lehmann!
    Was macht die Frau Gemahlin in Marienbad?«
    Die anderen Bandmitglieder hatten sich vor Lachen kaum noch auf den Plätzen gehalten; der Foxtrott verkam zum anzüglichen Schunkelsong, dessen vorwurfsvoll wiederholtes »Herr Lehmann … Herr Lehmann!« schließlich vom ganzen Saal mitgesungen wurde. Sándor hatte gute Miene zum bösen Spiel gemacht und die Sache über sich ergehen lassen, aber Julian Fuhs, der bei all dem populären musikalischen Krawall ein einfühlsamer Mensch geblieben war, warf ihm vom Klavier her einen nachdenklichen Blick zu und sah sofort, dass Jurmann zu weit gegangen war, viel zu weit.
    Sándor Lehmann war Bulle, kein Jazzmusiker. Das hier war nicht sein Leben. Wenn er über jemanden lachen wollte, konnte er dem dicken Gennat beim Kuchenessen zusehen, und wenn jemand über ihn selbst lachen wollte, konnte er ihm eins in die Fresse geben. Auf der Bühne stand er nur, weil Julian es gewollt hatte und weil er eine Klarinette spielen konnte wie wenige an dere in Berlin. Als Bulle im Ballsaal, nicht als Witzfigur, nicht als Herr Lehmann. Wenn sie ihn dafür brauchten, stand er nicht zur Verfügung. Es war vorbei.
    Julian Fuhs schnippte in den tosenden Applaus hinein mit den Fingern, sagte mit seitlich zum Schlagzeug gewendeten Kopf »Ten Cents«, und wahrhaftig, sie spielten es ein letztes Mal und ganz ohne Gesang. Charlie Hersdorf, Arno Lewitsch, die Blechbläser reihten sich mit ihren Soli wie eine musikalische Ehrengarde hintereinander,
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