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Oktoberfest

Oktoberfest

Titel: Oktoberfest
Autoren: Scholder Christoph
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Prolog
    A ls der alte Mann seinem Besucher lächelnd die Tür öffnete, konnte er nicht wissen, dass er nur noch neunzig Sekunden zu leben hatte. Sein von der Zeit gezeichnetes Gesicht wurde von weißem Haupthaar eingerahmt. Nur die buschigen schwarzen Brauen verrieten noch die frühere Farbe des Haares. In seinen klaren Augen spiegelte sich echte Freude.
    Der Besucher tat einen Schritt auf den alten Mann zu.
    Nach einer kurzen, herzlichen Umarmung wandte sich der alte Mann ab.
    Er griff nach seinem Stock, den er an die Wand gelehnt hatte, um sich in Richtung Küche aufzumachen. Die Spitze seines Stockes schleifte wie Kreide an einer Tafel über das Fischgrätparkett, wenn er den rechten Fuß aufsetzte. Die altertümliche Holzprothese des linken Beines schien bei jedem Schritt zu seufzen.
    Der Besucher schloss behutsam die Tür hinter sich.
    »Ich freue mich wirklich sehr, dich zu sehen«, sagte der alte Mann. Seine Stimme war zwar brüchig, dennoch war er klar und deutlich zu verstehen.
    »Wirklich sehr!« Ehrliche Ergriffenheit schwang im Klang der Wörter mit.
    Nach wenigen Metern wandte er sich nach rechts, zur Küchentür. Der alte Mann schaltete das Licht ein.
    Das Schleifen des Stockes klang schrill, als er über die Fliesen des Küchenbodens gezogen wurde. In der Mitte der Küchenzeile angekommen, griff er zunächst nach oben und nahm zwei Gläser aus einem Hängeschrank. Dann bückte er sich und öffnete die Kühlschranktür.
    Die Silhouette des Besuchers füllte den Rahmen der Küchentür nahezu vollständig aus.
    »Man hat sich schlimme Sachen über dich erzählt.« Der alte Mann sprach langsam. Nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte, schloss er mit einer erstaunlich geschickten Bewegung der Prothese die Kühlschranktür. In seiner rechten Hand hielt er eine Flasche ohne Etikett, gefüllt mit klarer Flüssigkeit.
    »Ich habe ihnen aber nie geglaubt!«, sagte der alte Mann mit Nachdruck. Er lächelte, während er sich zu seinem Besucher umdrehte.
    »Nicht eine einzige der Geschichten. Setz dich doch!« Die von Altersflecken übersäte Hand wies auf einen quadratischen Esstisch mit zwei passenden Stühlen.
    Biedermeier.
    Er stellte die beiden Gläser auf den Tisch. Dann plazierte er die Flasche mit einem Grinsen in der Mitte. Er zog den Korken heraus und goss beide Gläser halb voll. Der alte Mann ließ sich wohlig seufzend auf seinem Stuhl nieder und streckte seine Hände in einer einladenden Geste aus.
    Der Besucher ergriff die Hände des alten Mannes. Fast zärtlich strichen seine Finger über die faltige Haut.
    Noch während der Besucher auf dem angebotenen Stuhl Platz nahm, drückten seine Hände plötzlich mit einer ungeheuren Kraft zu.
    Die Knochen in den Händen des Greises brachen wie trockenes Reisig.
    Der Schock stand in den Augen des Alten.
    Sein Mund öffnete sich zu einem Schrei.
    Der Besucher bewegte sich sehr schnell und fließend. Seine linke Hand griff nach dem Haar seines Gegenübers. Seine rechte Hand zog ein Messer mit einer sieben Zentimeter langen schwarzen Keramikklinge hinter dem Rücken hervor. Er schnitt dem alten Mann in einer einzigen Bewegung die bloßliegende Kehle durch.
    Der Schmerzensschrei versiegte in einem blubbernden Gurgeln. Der Besucher zog den Kopf seines Opfers etwas nach hinten. Er ließ das Blut, das von dem sterbenden Herzen aus der klaffenden Wunde gepumpt wurde, in die auf dem Tisch stehenden Gläser laufen. Dann erhob er sich und ließ das Messer wieder hinter seinem Rücken verschwinden. Seine linke Hand hielt den alten Mann noch immer beim Schopf.
    »O’zapft is’!«, sagte der Besucher in unverkennbar bayerischem Dialekt.
    Der Besucher kannte sich in der Wohnung aus. Zielstrebig ging er in das Arbeitszimmer des alten Mannes und suchte die Regale ab. Bei den Buchrücken, die als Fotoalben erkennbar waren, stoppte er. Er griff das in der Mitte stehende heraus, um sich einen Überblick zu verschaffen.
    Welche Jahre standen links? Welche rechts?
    Schnell fand er, wonach er suchte. Der Besucher löste aus mehreren Alben Fotos heraus. Wenn sie festgeklebt waren, riss er sie mit Gewalt vom Papier. Ein gutes Dutzend Abzüge brachte er so an sich.
    Danach nahm er die Alben eines nach dem anderen nochmals aus dem Regal. Aus jedem entfernte er nun willkürlich Bilder. Es würde nicht nachvollziehbar sein, was genau fehlte. Der Gedanke an die verzweifelten Ermittler ließ ein Lächeln über sein Gesicht huschen.
    Es mochten an die einhundert Aufnahmen sein, die in
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