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Black Bottom

Black Bottom

Titel: Black Bottom
Autoren: Martin Keune
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Belfort selbst seelenruhig hintenrum spaziert und hat ihn kurzerhand abgestochen. So viel Blödheit muss uns erst mal einer nachmachen: dass wir den blutbespritzten Täter vor uns stehen sehen und nicht mal auf die Idee kommen, ihn zu fragen, ob er den Toten nicht nur gefunden und durchsucht hat – sondern sogar selbst in diesen Zustand gebracht …«
    Sándor tippte auf den letzten Finger der ausgestreckten Hand.
    Â»Jenitzky haben wir Mord und Totschlag zugetraut, aber seine Verwandtschaftsverhältnisse haben wir uns nicht angesehen. Ich habe mich aus Faulheit auf Belforts Gründlichkeit verlassen – und der brauchte keine Hintergrundinformationen über einen Täter, den er nicht überführen, sondern ans Messer liefern und totschlagen wollte. Also haben wir gemeinsam Jagd auf Jenitzky gemacht und die Tochter nicht bemerkt dabei.«
    Er überlegte.
    Â»Vielleicht hätte ich Belfort, den Scheißkerl, schon viel früher verdächtigt, wenn er nicht am Tatabend vor der Femina die Fenster zerschossen und so das Gas hätte abziehen lassen. Warum sollte ein Täter das tun? Ganz simpel: weil er das Publikum mit dem Gasangriff einschüchtern und vergraulen wollte; auf ein paar Tote weniger kam es ihm dabei nicht an, wenn er mit den Rettungsschüssen von sich selbst ablenken konnte. Als Alibi war das perfekt, gerade weil es für einen Täter so widersinnig zu sein schien.« Die beiden Männer schwiegen. Schließlich murmelte Bernhard Weiß mit beruhigender Stimme:
    Â»Sie sind ein guter Polizist, Lehmann. Immerhin hätten Sie die Toten in der Femina sowieso nicht wieder lebendig machen können, und die im Café Jenitzky haben Sie ja erfolgreich verhindert. Und glauben Sie mir, so voll, wie der Laden war, mit diesen baupolizeilich bedenklichen Umbauten ohne nennenswerte Fluchtwege – wir hätten die Toten in Dutzenden gezählt, vielleicht in Hunderten. Also Glückwunsch und herzlichen Dank im Namen der Reichspolizeidirektion. Die Beförderungsurkunde mit Lohnerhöhung kriegen Sie per Post, oder soll ich sie Ihnen mit einem Blumenstrauß und Pressefotografen in die Hand drücken?« Er zwinkerte.
    Sándor lachte auf.
    Â»Bitte nicht!«
    Weiß nickte.
    Â»Das dachte ich mir. Haben Sie mit Ihrem rettenden Klarinettensolo wenigstens Musikgeschichte geschrieben und den Wettbewerb im Café Jenitzky gewonnen?«
    Sándor zwinkerte zurück.
    Â»Ebenfalls Fehlanzeige. Obwohl ich mir regelrecht blutige Lippen gespielt habe; von einer erholsamen Freizeitbeschäftigung neben dem Polizeiberuf kann man da wirklich nicht mehr sprechen. Aber raten Sie mal, wer den Goldkübel mit den zehntausend Reichsmark nach sehr deutlicher Publikumsabstimmung gewonnen hat!«
    Weiß seufzte.
    Â»Ich ahne es. Dieser alte Fuchs! Wahrscheinlich ist Jenitzkys Preisgeld sozusagen in der Familie geblieben, wenn ich mich nicht irre. Und ganz nebenbei hat der Laden einen neuen Publikumsmagneten bekommen, den die ganze Stadt unbedingt gesehen haben muss. Das nenne ich Chuzpe … Ob das dem alten Strippenzieher die Tracht Prügel wert war, die er von Belfort bekommen hat?«
    Sándor Lehmann hatte keinen Zweifel daran.

TEN CENTS A DANCE (II)
    Das, dachte Sándor Lehmann und sah sich um, ist das wahre Leben, die große Welt. Dagegen ist alles, was wir so treiben, nur eine Provinzposse. Das war Unsinn, und er wusste es. In einer Millionenstadt wie Berlin über Wasser bleiben, sich durchboxen durch all die Gefahren und Verrücktheiten, heimisch werden mit diesem horizontweiten Muster aus Stein und Straßen und Menschen und Vieh: Das war alles andere als provinziell. Trotzdem weckten große Bahnhöfe bei ihm diesen Eindruck, und der Anhalter war ein verflucht großer Bahnhof, von dem aus täglich Tausende, ach was, Zehntausende von Menschen aus ihrem Leben gerissen und in ein ganz anderes katapultiert wurden, während gleichzeitig Tausende neue ankamen, um ihren Platz einzunehmen, ihre Frauen zu küssen, ihr Brot zu essen. In eine Bahnhofshalle zu gehen hieß für ihn, in einen Abgrund zu schauen, in einen Vulkanschlot der Veränderung. Unvorstellbar, dass hier Leute arbeiten konnten, Zeitungsverkäufer, Zugpersonal, die Bahnpolizei. Es gab keine Normalität in einer Bahnhofshalle, nur Abschiedstränen, Begrüßungslachen, letzte Worte wie bei einer Hinrichtung, erste Worte wie bei einer Geburt.
    Zu etwas
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