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Bitterzart

Bitterzart

Titel: Bitterzart
Autoren: Gabrielle Zevin
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Außerdem hatte ich gelernt, Auseinandersetzungen zu vermeiden. Den Kopf gesenkt zu halten. Niemandem in die Augen zu blicken.
    Durch Zufall oder Absicht hatte ich dieselbe Bettnachbarin wie beim ersten Mal: Mouse. Herzlich willkommen , schrieb sie.
    »Was steht diesmal über mich in den Zeitungen?«, fragte ich.
    Mafiatochter rettet Freund.
    Mouse war ruhige, aber angenehme Gesellschaft. Ehrlich gesagt, störte mich ihr Schweigen nicht. Dadurch hatte ich Zeit, über all die Dinge nachzudenken, die ich erledigen musste, sobald ich wieder draußen war. Ich musste eine Schule für mich finden. Vielleicht auch eine neue Schule für Natty. Wenn sie so schlau war, wie behauptet wurde, war eine Einrichtung wie Holy Trinity vielleicht nicht mehr gut genug für sie. Möglicherweise würde ich mir sogar eine Weile freinehmen, ehe ich die Highschool beendete. Ich wusste es nicht.
    Manchmal dachte ich auch an Win, aber ich versuchte es zu vermeiden.
    Jedenfalls blieb ich nicht ohne Besuch.
    Scarlet kam, sooft sie konnte. Einmal brachte sie sogar Gable mit. Ich vermutete, dass sie verliebt waren, auch wenn mich das anekelte. Sie behauptete, er hätte für seine Sünden gebüßt, doch ein Teil von mir würde in ihm niemals etwas anderes sehen als den Jungen in meinem Zimmer, der – das kann ich jetzt zugeben – mir unglaubliche Angst eingejagt hatte. Ein Teil von mir bezweifelte, dass sich ein Mensch wahrhaft ändern konnte. Ich schätze, ich war ebenso voreingenommen wie alle Menschen in dieser verrückten Welt.
    Eines Tages tauchte mein Cousin Mickey auf. Ich war überrascht, ihn zu sehen, und zögerte nicht, ihm das auch zu sagen.
    »Dad liegt im Sterben«, sagte er. »Ich glaube nicht, dass er das Ende des Jahres noch erlebt. Er wollte, dass ich herkomme und dich besuche.«
    »Danke.«
    »Ich komme gerne. Ich meine, ich wollte dich sowieso besuchen. Ich liebe meinen Vater, aber er hätte nie derjenige werden dürfen, der die Familie leitet. Er war immer nur ein Schokoladenverkäufer. Es liegt ihm nicht, auf der anderen Seite des Gesetzes zu stehen. Er ließ den Sachen ihren Lauf. Er wollte sich allen gegenüber anständig verhalten, aber er wusste nicht, wie. Deine Großmutter hätte das Geschäft übernehmen sollen, aber damals gab es Vorbehalte, weil sie eine Frau war.«
    Da hatte ich etwas anderes gehört, aber egal. »Diese dummen Männer.«
    »Allerdings. Deshalb bin ich der Meinung, dass diese Familie nicht noch einmal denselben Fehler machen sollte. Du und ich, wir sollten zusammen die Leitung übernehmen«, sagte Mickey. »Schokolade war nicht immer verboten, und vielleicht wird sich das in naher Zukunft wieder ändern. Wenn wir es schlau anstellen, können wir vielleicht mit Hilfe von Anwälten statt mit Waffen gewinnen. Charles Delacroix wird die Wahl gewinnen, er ist ein pragmatischer Mann. Ich glaube, dass er ein offenes Ohr hat.«
    Ich schwieg.
    »Yuji Ono hält sehr viel von dir«, fuhr Mickey fort. »Mein Vater hält sehr viel von dir. Meine Frau Sophia hält sehr viel von dir. Ich halte sehr viel von dir. Nächstes Jahr ist dein letztes Schuljahr an der Highschool. Du musst dich entscheiden. Ob du nur zusehen oder mitmachen willst. Es liegt an dir.
    Hör zu, Anya«, fuhr er fort. »Ich weiß, was du auf dich nehmen musstest, um deine kleine Familie zu beschützen. Das ist nicht unbemerkt geblieben. Hast du dich schon mal gefragt, ob es nicht einfacher wäre, sie zu beschützen, wenn du diejenige wärst, die das Sagen hat?«
    »Zusammen mit dir?«
    »Ja, mit mir. Du bist noch sehr jung. Und du bist, wie du selbst gesagt hast, nur ein junges Mädchen. Wir könnten ein Team bilden. Ich habe dich jetzt schon länger beobachtet. Ich glaube, dass unser Unternehmen mit den richtigen Entscheidungen wieder völlig seriös werden kann. Und wenn Schokolade wieder erlaubt würde …«
    Er musste diesen Gedanken nicht zu Ende führen. Wir beide wussten genau, was das bedeuten würde. Wenn Schokolade erlaubt würde, wäre Natty in Sicherheit. Wir würden keine Waffen mehr tragen oder uns auf dem Schwarzmarkt herumschlagen müssen. Und vielleicht könnte ich sogar mit einem netten Jungen wie Win zusammen sein.
    Oder mit Win selbst, wenn er mich noch nehmen würde.
    »Du und ich, wir wurden in diese Situation hineingeboren«, fuhr Mickey fort. »Wir haben es uns nicht ausgesucht. Aber wir können entscheiden, wie es weitergeht. Unser Geburtsrecht war es, Balanchines zu sein, aber das muss nicht automatisch in Gewalt und Tod
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