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Bitterzart

Bitterzart

Titel: Bitterzart
Autoren: Gabrielle Zevin
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enden. Das hast du bei deiner Rede im Pool auch gesagt. Gewalt sollte nicht zu noch mehr Gewalt führen.«
    Ich nickte. Eine Glocke verkündete das Ende der Besuchszeit. »Danke für deinen Besuch«, sagte ich. »Du hast mir viel Stoff zum Nachdenken gegeben.«
    Mickey nahm meine Hand. »Komm mich besuchen, wenn du hier raus bist. Am fünfzehnten September, oder? Dann können wir uns in Ruhe unterhalten.« Er fuhr sich mit den Fingern durch sein weißblondes Haar. »Ich habe überlegt, ob ich mal nach Kyoto fliege«, sagte er, als er ging. »Hast du vielleicht Lust, mich zu begleiten?«
    Ich wusste nicht, was Mickey damit meinte. War es eine Anspielung auf meinen Bruder? Aber Mickey schien Yuji Ono sehr gut zu kennen, vielleicht ging es doch nur darum, Yuji zu besuchen.

    Am 12. August wurde ich siebzehn. Ich verbrachte den Tag, so wie jeden in diesem Sommer, in Liberty. Scarlet hatte für mich eine Party im Besuchsraum organisieren wollen, aber ich hatte ihr ernsthaft von dieser Idee abgeraten.
    »Aber Anya«, protestierte sie. »Ich möchte nicht, dass du an deinem Geburtstag allein bist.«
    »Ich bin nicht allein«, versicherte ich ihr. »Ich schlafe zusammen mit fünfhundert Mädchen in einem Raum.«
    »Kann ich dich wenigstens besuchen kommen?«, hakte sie nach.
    »Nein. Ich will keinen Grund haben, mich jemals an meinen siebzehnten Geburtstag zu erinnern.«
    Am Vormittag meines Geburtstags kam eine Wache in den Speisesaal und teilte mir mit, dass ich Besuch hatte.
    Ach, Scarlet, dachte ich, du hörst einfach nicht zu.
    Ich ging in den Besuchsraum. Es war noch früh, keine halb acht, deshalb war außer meinem Gast niemand da.
    Er hatte kurzes Haar, trug das Hemd von der Schuluniform und eine leichte Hose. Im Sommer hatte ich ihn noch nie gesehen, daher kannte ich die Hose nicht. In meinem dunkelblauen Overall war ich natürlich unglaublich schick. Ich fuhr mir mit den Fingern durch das verfilzte Haar. Ich wusste, dass mir egal sein sollte, was Win von mir dachte, aber das war es nicht. Wenn er seinen Besuch angemeldet hätte, hätte ich vielleicht Zeit gehabt, mich auf ihn vorzubereiten. Möglicherweise hätte ich mich sogar geweigert, ihn zu empfangen. Doch so liefen meine Füße unbeirrbar auf den Tisch zu, wo er saß, und ich hockte mich auf den Stuhl, der im angemessenen Abstand zu ihm stand.
    Hätte ich gewusst, dass er kam, wäre es mir sicherlich irgendwie gelungen, vorher zu baden. Ich wusste nicht, wann ich mich das letzte Mal in einem Spiegel betrachtet hatte. Aber es war egal, dachte ich. Ich würde ihn behandeln wie einen alten Freund, der zu Besuch kam.
    »Schön, dich zu sehen, Win. Ich würde dir ja die Hand geben«, sagte ich, »aber …« Ich wies auf das Schild mit der Aufschrift KONTAKT VERBOTEN, das an der Tür hing.
    »Ich will dir nicht die Hand geben«, sagte er und sah mich mit kühlen blauen Augen an. Ihre Farbe hatte sich von Himmelblau zu Dunkelblau verändert, seit ich ihn zum letzten Mal gesehen hatte.
    »Wo ist deine Mütze?«, fragte ich leichthin.
    »Ich trage keine Mützen mehr«, erwiderte er. »Ich hab sie immer irgendwo liegenlassen, und das wurde noch schlimmer, seitdem ich mit diesem Stock herumlaufe.« Er wies mit dem Kinn auf einen Gehstock, der am Tisch lehnte.
    »Das tut mir leid. Hast du noch große Schmerzen?«
    »Ich will dein Mitleid nicht«, sagte er mit rauer Stimme. »Du bist eine Lügnerin, Anya.«
    »Das weißt du nicht.«
    »Doch«, erwiderte er. »Du hast zu mir gesagt, du würdest ins Ferienlager fahren, und jetzt guck, wo ich dich finde.«
    »Na, ganz was anderes ist es ja nicht, oder?«, scherzte ich.
    Er überhörte es. »Als ich endlich erfuhr, dass du hier bist – und das dauerte ziemlich lange, weil ich mir große Mühe gegeben habe, dich nicht zu erwähnen –, konnte ich nicht umhin, mich zu fragen, in welcher Hinsicht du noch gelogen hast.«
    »Gar nicht«, sagte ich und zwang mich, nicht zu weinen. »Alles andere war die Wahrheit.«
    »Aber wir haben bereits festgestellt, dass du eine Lügnerin bist, also wie kann ich dir noch irgendwas glauben?«, fragte er.
    »Kannst du nicht«, sagte ich.
    »Du hast mir gesagt, du wärst in jemand anders verliebt«, sagte Win. »War das gelogen?«
    Ich antwortete nicht.
    »War das gelogen?«
    »Die Wahrheit ist … Die Wahrheit ist, dass es unwichtig ist, ob es gelogen war. Wenn es gelogen war, dann deshalb, weil es die Wahrheit sein musste. Bitte, Win, hasse mich nicht.«
    »Ich würde dich gerne hassen«,
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