Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bitterzart

Bitterzart

Titel: Bitterzart
Autoren: Gabrielle Zevin
Vom Netzwerk:
Sperrstunde. Das alles waren kleinere Vergehen. Leider saß ich vor dem König der Ahndung von Bagatelldelikten.
    »Sie haben mich beschatten lassen!«
    »Ich brauchte eine Absicherung, falls du dich nicht an unsere Abmachung halten würdest. Du wirst, zu Recht oder Unrecht, hier als Straftäter angesehen. Und wie du sehr gut weißt, gilt die milde dreimonatige Haftstrafe nur, wenn du nicht wieder rückfällig wirst. Wenn ich dich für, sagen wir mal, ein Jahr nach Liberty schickte, wären zwei meiner Probleme gelöst. Niemand könnte mehr behaupten, ich hätte dich begünstigt, und es gäbe keine Geschichten mehr über Win und dich.«
    »Ich kann hier kein Jahr bleiben«, flüsterte ich.
    »Wie wäre es dann mit sechs Monaten? Bis dahin ist die Wahl gelaufen.«
    »Ich kann nicht.« Ich würde nicht vor Charles Delacroix weinen. »Ich kann einfach nicht.«
    »Dafür werde ich dir versprechen, dass deine kleine Schwester in Ruhe gelassen wird, falls das deine Sorge ist.«
    »Drohen Sie mir etwa?«, fragte ich.
    »Ich drohe nicht, ich feilsche. Wir feilschen miteinander, Anya. Vergiss nicht, ich habe triftige Gründe, dich wieder nach Liberty zu schicken: Schokoladenbesitz, Koffeinkonsum, Verstoß gegen die Ausgangssperre.«
    Ich fühlte mich wie ein Tier in der Falle.
    Ich war ein Tier in der Falle.
    Ich wollte mit Mr. Kipling sprechen, auch wenn ich irgendwie wusste, dass er mich hiervor nicht schützen konnte. Ich hatte Pech gehabt, ja, aber ich war auch unglaublich dumm gewesen. »Die Wahl ist in der zweiten Novemberwoche. Sie könnten mich doch Weihnachten wieder herauslassen. Das wären drei Monate.«
    Charles Delacroix dachte darüber nach. »Sagen wir: vier. Ende Januar klingt einfach besser. Wenn du direkt einen Monat nach der Wahl wieder herauskämst, könnte das falsch verstanden werden.«
    Ich nickte. Er schob seine Hand zwischen den Gitterstäben hindurch, und nach einer kurzen Pause ergriff ich sie. Mein Handgelenk tat furchtbar weh, ich zuckte zusammen.
    Charles Delacroix erhob sich. »Tut mir leid, das hier. Ich sorge dafür, dass du nicht noch einmal in den Keller gebracht wirst. Ich wollte nur sichergehen, dass wir miteinander sprechen können, ohne beobachtet zu werden.«
    »Danke«, sagte ich schwach. Aber ich wusste, dass er log. Mich in den Keller zu schicken war eine sehr subtile Art der Einschüchterung gewesen.
    Kurz bevor er gehen wollte, drehte er sich noch einmal um und kniete sich vor den Verschlag, so dass wir auf Augenhöhe waren. »Anya«, flüsterte er, »warum konntest du es uns beiden nicht einfacher machen und für ein Jahr verschwinden? Verwandte in Russland besuchen? Ich weiß, dass du Freunde in Japan hast. Ein Mädchen wie du hat bestimmt Freunde in allen Königreichen der Welt.«
    »New York ist meine Heimat, und ich wollte die Highschool abschließen«, erwiderte ich etwas lahm.
    (…)
    Charles Delacroix griff an den Stäben vorbei, um meine Wange zu streicheln. »Dieser Laden hier wird miserabel geführt. Alles voller Löcher. Wenn du in einer Woche oder zwei zufällig in eins fallen solltest, glaube ich nicht, dass man nach dir suchen würde.«
    »Sie wollen mir Angst machen.«
    »Ganz im Gegenteil, Anya. Ich versuche, dir zu helfen.«
    Langsam verstand ich, was er meinte. »Aber wie soll ich jemals zurückkommen?«
    Er stand auf und nahm seinen Thermosbecher mit. »Du hast einen neuen Freund, der Staatsanwalt von New York werden wird. Ein Freund, der findet, dass die Prohibitionsgesetze völlig in die falsche Richtung gehen und lediglich das Leben von Menschen ruinieren. Ein Freund, der nicht vergisst, dass du das Leben seines Sohnes gerettet hast. Ein Freund, der dir besser wird helfen können, sobald dieser verflixte Wahlkampf vorbei ist.«
    »Wir sind keine Freunde, Mr. Delacroix.«
    Er zuckte mit den Schultern. »Im Moment vielleicht nicht. Aber wenn du mal so alt bist wie ich, gewöhnst du dich an die Vorstellung, dass die Feinde von gestern heute deine Freunde sein können. Oder andersherum. Gute Nacht, Anya Balanchine. Bleib gesund.«

    Rund eine Viertelstunde nachdem Charles Delacroix gegangen war, kam eine Wärterin und brachte mich zur endgültigen Aufnahme in Liberty zu Mrs. Cobrawick und Dr. Henchen. Sie warteten schon auf mich, obwohl es fast drei Uhr nachts war. »Es tut mir leid, dich hier wiederzusehen, Anya Balanchine«, sagte Mrs. Cobrawick. »Aber ich kann nicht behaupten, dass es mich wundert.«
    Sie konsultierte meine Akte in ihrem Tablet. »Oje, oje.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher