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Bitterzart

Bitterzart

Titel: Bitterzart
Autoren: Gabrielle Zevin
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beide gründlich durchsucht, bevor wir hineingelassen wurden.
    Für die Besprechung war ein runder Konferenztisch gewählt worden, der mitten in einem leeren Schwimmbecken stand. Für Yuris Rollstuhl war ein Lift an der Längsseite des Beckens angebracht worden. Der Rest von uns musste über Leitern hinuntersteigen. Alle anderen waren schon da. Mein Platz war gegenüber von Yuri, auf der tiefen Seite.
    Ich war die einzige Frau bei dem Treffen, daher hatte ich sorgfältig überlegt, was ich anziehen würde. Nana hatte immer gesagt, dass es Männer befremdete, wenn eine Frau sich kleidete wie sie, daher kam ein Hosenanzug nicht in Frage. Ich hatte eins von Nanas alten Kleidern anprobiert, aber es war mir zu förmlich, ich kam mir darin verkleidet vor. Schließlich entschied ich mich für meine gute alte Schuluniform. Sie wirkte nicht bedrohlich, dache ich, aber dennoch offiziell.
    Ich setzte mich auf meinen Stuhl, und Mr. Kipling stellte sich hinter mich, wie es Sitte war.
    »Nun, junge Dame«, echote Yuris Stimme durch das Schwimmbecken. »Du hast dieses Treffen einberufen. Was hast du uns mitzuteilen?«
    Ich räusperte mich. Daddy hatte immer gesagt, es sei gelogen, dass man frei von der Leber weg sprechen solle – man sollte das Hirn ruhig mit einschalten. Ich räusperte mich erneut. »Viele von euch wissen, dass ich morgen eine dreimonatige Haftstrafe in der Jugendeinrichtung Liberty antrete. Das ist zwar nicht Rikers Island, aber ein Urlaub wird es auch nicht gerade werden.«
    Die Männer lachten.
    »Ich wollte heute mit euch sprechen, weil das Blutvergießen ein Ende haben muss. In den letzten zehn Jahren habe ich meine Mutter, meine Großmutter und meinen Vater verloren. Mein Bruder ist möglicherweise tot, auf jeden Fall ist er für mich verloren. Die Einzigen, die mir noch geblieben sind, sind meine Schwester und« – an dieser Stelle hielt ich inne, um jedem aus meiner bunten Familienbande ins Gesicht zu sehen – »ihr.«
    Anerkennendes Gemurmel.
    »Wenn ich darüber nachdenke, was Cousin Jacks getan hat, werde ich unglaublich traurig. Er hatte das Gefühl, seine einzige Chance bestände darin, unsere Schokolade und den Kopf meines Bruders zu vergiften. Ihr fragt euch vielleicht, ob ich Jacks etwas nachtrage, und ich bin hier, um euch zu versichern, dass ich das nicht tue. Meine größte Hoffnung ist, dass es nach Jacks’ Geständnis keine Vergeltungsmaßnahmen mehr geben wird und dass meine Schwester und ich in Frieden leben können. Ich bin nur ein junges Mädchen, aber selbst ich weiß, dass wir uns gegenseitig zerstören werden, wenn wir nicht aufhören, uns zu bekämpfen. Wir müssen uns wieder wie Verwandte behandeln.« Erneut räusperte ich mich. »Mehr habe ich nicht zu sagen.«
    Es war nicht gerade die wortgewaltigste Rede, aber ich hatte meinen Teil getan.
    Yuri spähte zu mir herüber. »Die kleine Anya ist eine erwachsene Frau geworden. Anya, ich persönlich versichere dir, dass niemand deinen Bruder suchen wird, falls er noch am Leben sein sollte. Und dass Leo nichts angetan werden wird, falls er in einem gewissen Zeitraum, wenn sich die Emotionen beruhigt haben, vorhaben sollte, zu euch zurückzukommen. Es war mein Fehler, ihn gegen den Willen meines geliebten Halbbruders Leonyd im Pool anzustellen, und ich habe meine Lektion gelernt. Außerdem versichere ich dir, dass du und deine Schwester in Frieden leben könnt. Niemand hält dich für die Schüsse auf meinen Sohn Jacks oder für seine Verhaftung verantwortlich. Es schmerzt mich, das zu sagen, aber er ist das Ergebnis einer unreinen Verbindung, und vielleicht hat der Bastard es so verdient.«
    Onkel Yuri kam mit seinem Rollstuhl auf mich zu. Er rollte leicht, da der Boden im Becken abschüssig war und ich am tieferen Ende saß.
    Als der alte Mann bei mir war, küsste er mich auf beide Wangen. »Ganz der Vater«, sagte er, und dann flüsterte er mir ins Ohr: »Du könntest diesen Laden besser führen als jeder meiner Söhne.«

    Am nächsten Tag kehrte ich nach Liberty zurück. Ich wurde von Mrs. Cobrawick empfangen. Sie war vorsichtig, konnte sich aber nicht verkneifen zu sagen: »Ich hatte so ein Gefühl, dass wir uns wiedersehen würden.« Dann führte sie mich zum Orientierungsbereich für Langzeitinsassen (nur zur Tätowierung brauchte ich nicht, die hatte ich ja schon). Ich fand Liberty nicht besser oder schlechter als beim letzten Mal. Vielleicht war es einfacher für mich, weil ich dieses Mal wusste, wie lange ich bleiben würde.
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