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Der Himmel über Kasakstan

Der Himmel über Kasakstan

Titel: Der Himmel über Kasakstan
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Sie ritten über die Steppe und trieben ihre Herden zusammen. Ihr »Heij! Heijo! Dawai! Dawai!« schallte über das unendliche Land und übertönte das Brummen der Rinder und das helle Wiehern der kleinen, struppigen Pferde.
    Mit den Hirten ritt auch Rudolf Bergner. Er saß auf seinem hohen Pferd, das er vor drei Jahren auf einer Auktion in Shitomir gekauft hatte und von dem im Dorf die Sage ging, es stamme aus einer Zucht von erbeuteten Zarenpferden. Es war ein herrliches, hochbeiniges, breitbrüstiges Pferd mit einem weiß-goldbraun gefleckten Fell, das in der Sonne leuchtete, als sei es mit Goldstaub überzogen.
    »Wir müssen sie schneller zusammentreiben, Freunde!« schrie Rudolf Bergner über die donnernden Hufe und die gesenkten Rinderköpfe hinweg. »Bei Sonnenuntergang müssen wir in Nowy Wjassna sein! Noch einen Tag können wir sie das verbrannte Gras nicht fressen lassen! Dawai!«
    Er beugte sich über den Hals seines goldenen Pferdes und tätschelte es. Das Pferd warf den Kopf herum und versuchte, mit den trockenen Nüstern seine Hand zu erreichen.
    »Durst, mein Lieber?« Rudolf schob den ausgeblichenen Filzhut in den Nacken und öffnete das Hemd über der behaarten Brust. »Noch drei Stunden, moj druk (mein Freund), und du stehst an der Krippe. Drei kleine Stündchen … sie werden staunen in Nowy Wjassna, wie schön unsere Rinder geworden sind …«
    Unter den Hufen der Tiere wirbelte der Staub auf. Ein Donnern ging durch den Steppenboden, als erschüttere ihn ein Erdbeben. Schreiend, die Peitsche schwingend, auf den schnellen, kleinen Kosakenpferden mit der Fertigkeit von Artisten sitzend und im Galopp sich hinüberbeugend zu widerspenstigen Rindern und sie mit der Lederpeitsche zwischen die Augen schlagend, jagten die Hirten mit der Herde nach Norden. Ihr helles Geschrei flog den Tieren voraus und flatterte der Herde nach und vermischte sich mit Staub, Sonne und aufgewirbelten Grasballen zu einem Ganzen.
    Als sie in Nowy Wjassna einritten, Rudolf Bergner auf seinem weißgoldenen Pferd voran, kamen ihnen nicht wie sonst nach den langen Tagen der Steppenweiden die Kinder entgegen oder standen die geduldigen Frauen in ihren hellen Kopftüchern unter den Haustüren.
    Der Platz neben den beiden großen Dorfbrunnen war leer. Einige Eimer standen um den gemauerten Rand, so, als habe man sie bei einem eiligen Aufbruch vergessen.
    Von beiden Seiten der einziehenden Herde her ritten die Hirten nach vorn. In ihren Augen spiegelte sich Ratlosigkeit.
    »Das Dorf ist leer, Rudolf!« rief einer von ihnen. »Ich habe bei Marussja ans Fenster geklopft … als ich in die Stube hineinsah, stand das Brot und der kalte Braten auf dem Tisch, aber Marussja war nicht da!«
    »Die Eimer am Brunnen …«
    »Und Wandaschka steht auch nicht an der Tür!« rief ein junger Bursche. Wandaschka war seine erste Liebe … ein schmales, hübsches, großäugiges Geschöpf, das immer am Dorfrand stand und ihm zuwinkte, wenn er nach zwei Wochen Viehtrieb zurückkam nach Nowy Wjassna. Heute war ihr Platz leer, und Piotr begriff es nicht.
    »Es wird eine Versammlung sein«, sagte Rudolf laut. Aber er überzeugte nicht, weil er es selbst nicht glaubte.
    »Jetzt, im September?! Die Kolchosennorm ist doch noch gar nicht ausgerechnet!«
    »Wir werden es gleich wissen, Freunde.«
    Sie ritten weiter. Schneller, ungeduldig, die Herde nicht mehr treibend, sondern sie ohne Zusammenhalt durch das Dorf traben lassend. Vor dem Hofe Rudolf Bergners hielten sie an und sprangen vom Pferd.
    Auf dem Platz vor der Scheune, nahe der Mauer, die das Gehöft von der Straße trennte, stand ein altes Auto. Der Lack war an vielen Stellen abgeblättert, und das rostende Blech sah hervor. Die Rückscheibe fehlte und der linke vordere Kotflügel. Aber es fuhr noch … man sah es an dem frischen Staub, der auf der Kühlerhaube lag und auf den ungelenke Kinderfinger das Wort ›Swinja‹ (Sau) geschrieben hatten.
    »Genosse Semjow ist da!« sagte Rudolf. Er ließ sein Pferd laufen, das in den Stall trabte. Die Hirten umstanden ihn und sahen hinüber zu dem langgestreckten Haus, durch dessen Fenster man das Summen vieler Stimmen bis hinaus auf den stillen Platz hörte.
    »Das ganze Dorf ist bei dir, Rudolf!«
    »Genosse Distriktsowjet wird eine neue Norm verkündet haben. Jetzt streitet man darüber. Als ob das einen Sinn hätte …«
    »Wenn die neue Norm uns vorschreibt, daß wir noch mehr Schweine, Bohnen, Kohl, Getreide und Sonnenblumenkerne abgeben müssen, trete
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