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Der Himmel über Kasakstan

Der Himmel über Kasakstan

Titel: Der Himmel über Kasakstan
Autoren: Heinz G. Konsalik
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melden, daß wir bleiben wollen?«
    »Nein!«
    »Warum nicht?!« schrie Bergner.
    »Kennst du Sibirien, Genosse?« Er sah dem Rauch seiner Zigarette nach. »In der Registratur arbeitet ein Mann, der war zehn Jahre in einem Lager am Omoron. Dort ist das Ende der Welt, und die Wölfe erfrieren beim Laufen. Wenn du ihm einen Wodka gibst, erzählt er dir davon …«
    Ohne ein weiteres Wort verließ Bergner den Raum.
    Er taumelte ein wenig, als er die breite Treppe hinabging. Die Pracht des Parteihauses, die großen, hohen Fenster, die riesigen Treppen, die glänzenden Holztüren, die weiße, zehnstöckige Fassade mit dem in der Sonne glitzernden goldenen Symbol der Sowjetmacht über dem breiten Eingang … alles, selbst die Menschen, Straßenbahnen und Autos auf den Straßen kamen ihm wie ein altes, verwaschenes Bild vor, das er hinter einem Gazevorhang sah. Er lehnte sich an eine der Säulen des Parteihauses und drückte seine heiße Stirn gegen den kühlen Stein.
    Ein Beamter der Partei blieb neben ihm stehen.
    »Ist Ihnen schlecht, Genosse?« fragte er. »Kann ich Ihnen helfen?«
    Bergner schüttelte den Kopf. Er stieß sich von der Säule ab und ging die Stufen der hohen Treppe hinab auf die Straße.
    Wer ist Hitler, fragte er sich bei jedem Schritt. Wo kommt er her? Was kümmert uns dieser Hitler? Uns geht nur die Ernte an, das Soll der Kolchose, das Gedeihen der Rinder und der Auftrieb des Viehs zu den Weideplätzen am Usch. Wer hat diesem Hitler gesagt, daß wir zurück nach Deutschland wollen? Wen von uns hat er gefragt?
    Ein wahnsinniger Gedanke setzte sich in ihm fest.
    Wir werden uns weigern. Vor aller Welt werden wir uns weigern! Wir werden es hinausschreien, wir alle in Wolhynien: Laßt uns dort sterben, wo wir geboren sind!
    Mit diesem Gedanken fuhr er nach Hause. Dieser Gedanke gab ihm Kraft. Einigkeit, dachte er. Das ist das einzige, was überzeugt. Wir haben Deutschland nie vergessen, wir tragen es im Herzen. Aber unsere Fäuste drücken den Pflug durch russische Erde, und sie ernährt uns. Draußen am Dorfrand liegen unsere Mütter und Väter. Ihre Gräber schmückt ein deutsches Kreuz, und deutsch sind die Worte, die auf den Schildern stehen. Hier ruht … Hier schläft auf ewig … Bis zum jüngsten Tag …
    Aber die Erde ist russisch. Man soll uns die Erde lassen, wie wir nicht vergaßen, Deutsche zu sein.
    Als er zurückkam nach Nowy Wjassna, fand er ein anderes Dorf vor als das, das er verlassen hatte.
    Das Vieh stand in den Ställen, die Gemüsegärten lagen verwaist. Aber hinter den geöffneten Fenstern, durch die die heiße Herbstsonne brannte, saßen sie um die selbstgezimmerten Tische und lasen Zeitungen und Broschüren, Flugblätter und Briefe, die der Postreiter ihnen mitgebracht hatte.
    Zeitungen aus Deutschland. Sie hatten stolze, aufreißende, klirrende, das deutsche Herz angreifende Namen.
    Vorwärts … Völkischer Beobachter … Das Reich … Der Stürmer … Das Schwarze Korps …
    »Sie sind alle verrückt«, sagte Iwan Brennecke, ein Bauer aus der Nachbarschaft, als Bergner bei ihm anhielt. »Hitler hat uns Zeitungen geschickt. Er verspricht uns besseres, größeres Land, er verspricht uns neue Höfe, ertragreicheres Vieh und ein freies Leben, ohne Soll, ohne Kolchosen, ohne Dorfsowjet, ohne Arbeitsnormen. Er verspricht uns das Paradies! ›Das Vaterland holt seine liebsten Söhne heim!‹ sagt ein Dr. Goebbels. ›Hinter dem Willen des Führers stehen 65 Millionen!‹«
    Rudolf Bergner hörte nicht mehr hin. Er schnalzte mit der Zunge und fuhr weiter, seinem Hofe zu.
    Einigkeit, dachte er. Mein Gott, verzeih, daß ich daran glaubte – .
    *
    Zu Hause traf er seine Frau, Vera Petrowna, nicht an.
    Nur seine Kinder spielten im Hof auf einer Wippe. Die kleine Erna-Svetlana und der zehnjährige Mischa, ein Krüppel, der seine Beine nicht bewegen konnte, seit er vor vier Jahren von einem scheuenden Pferd zu Boden getrampelt wurde und beide Beine so zerbrachen, daß kein Arzt sie wieder zurechtrücken konnte.
    Sie lachten hell vor Vergnügen, Mischa, seiner Beine ja nicht mächtig, lag auf dem Bauch und drückte die Wippe mit den Händen ab. So wurde Svetlana emporgeschleudert, und bei jedem Luftsprung lachte sie auf und schüttelte die langen, blonden Locken.
    »Wo ist die Mutter?« rief Bergner ihnen zu. Als Mischa bedauernd die Arme hob, verließ er den Platz vor der Scheune und ging über die Dorfstraße hinüber zur stolowaja, dem Versammlungshaus von Nowy Wjassna. Sie war der Stolz
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