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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition)
Autoren: Dan Chaon
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    EIN PAAR TAGE nachdem Lucy ihren Highschool-Abschluss gemacht hatte, verließen sie und George Orson mitten in der Nacht die Stadt. Sie waren nicht auf der Flucht – nicht direkt –, aber es war schon so, dass niemand von ihrer Abreise wusste, und ebenso, dass niemand wissen würde, wohin sie gegangen waren.
    Sie waren sich darüber einig gewesen, dass ein gewisses Maß an Diskretion, ein gewisses Maß an Geheimhaltung nötig sein würde. Nur bis sie alles geregelt hätten. George Orson war nicht nur ihr Freund, sondern auch ihr ehemaliger Geschichtslehrer an der Highschool, was die Dinge in Pompey, Ohio, kompliziert hatte.
    Tatsächlich war die Sache nicht so schlimm, wie es klingen könnte. Lucy war achtzehn, fast neunzehn – volljährig –, und ihre Eltern waren tot. Freunde, richtige Freunde, hatte sie praktisch keine. Sie hatte bis dahin zusammen mit ihrer älteren Schwester Patricia im Haus ihrer Eltern gewohnt, aber die beiden hatten sich nie nahegestanden. Darüber hinaus hatte sie allerlei Onkel, Tanten und Cousins, mit denen sie kaum ein Wort wechselte. Und George Orson hatte ihres Wissens gar keine Freunde oder Verwandte.
    Also: warum nicht? Sie würden einen sauberen Schlussstrich ziehen. Ein neues Leben anfangen.
     
    Trotzdem wäre es ihr lieber gewesen, wenn sie woandershin durchgebrannt wären.
    Sie erreichten Nebraska nach ein paar Tagen, und da schlief Lucy gerade, bekam deswegen nicht mit, wie sie die Interstate verließen. Als sie die Augen öffnete, fuhren sie ein schnurgerades leeres Stück Highway entlang, und George Orsons Hand lag sittsam auf ihrem Oberschenkel – eine reizende Angewohnheit, die er hatte: die flache Hand auf ihr Bein zu legen. Sie konnte sich im Außenspiegel sehen, ihre gewellten Haare, ihre Sonnenbrille, in deren Gläsern sich die reglosen Flächen von flechtengrünem Präriegras spiegelten. Sie setzte sich auf.
    «Wo sind wir?», fragte sie, und George Orson sah zu ihr hinüber. Sein Blick kühl und melancholisch. Da musste sie an früher denken, wie sie noch ein Kind gewesen war, ein Kind in diesem alten Kleinstadt-Familienauto, ihres Vaters grobe, schwielige Klempnerhände fest am Lenkrad und ihre Mutter auf dem Beifahrersitz mit einer Zigarette, obwohl sie Krankenschwester war, das Fenster einen Spaltbreit auf, damit der Rauch abzog, und ihre Schwester auf dem Rücksitz schlafend, mit offenem Mund hinter ihrem Vater atmend, und Lucy, ebenfalls auf dem Rücksitz, die die Augen einen Schlitz weit aufmachte und, während die Schatten der Bäume über ihr Gesicht huschten, dachte: Wo sind wir?
    Sie setzte sich gerader hin und schüttelte die Erinnerung ab.
    «Fast da», murmelte George Orson, als erinnerte er sich an etwas Trauriges.
     
    Als sie die Augen wieder aufmachte, war das Motel da. Sie parkten davor: ein Turm, der wie ein Schattenriss vor ihnen aufragte.
    Lucy hatte einen Moment gebraucht, um zu begreifen, dass das Gebäude einen Leuchtturm darstellen sollte. Oder besser gesagt – die Front des Gebäudes, die Fassade, war wie ein Leuchtturm gestaltet. Es war eine große, vielleicht zwanzig Meter hohe Konstruktion aus Hohlblocksteinen, an der Basis breit und sich dann zunehmend verjüngend und wie eine Ringelsocke rot-weiß gestrichen.
    THE LIGHTHOUSE MOTEL erklärte ein großes unbeleuchtetes Neonschild – verschnörkelte nautische Buchstaben, wie aus Tauen geknotet –, und Lucy saß da im Auto, in George Orsons Maserati, und staunte.
    Rechts von diesem Leuchtturm befand sich eine L-förmige Anlage von vielleicht fünfzehn Motelzimmern; links davon, ganz oben auf dem Buckel des Hügels, das Haus, in dem George Orsons Eltern früher einmal gewohnt hatten. Nicht direkt ein Herrenhaus, aber hier draußen in der offenen Prärie durchaus ehrfurchtgebietend, ein großer alter viktorianischer Bau mit sämtlichen Requisiten eines Spukhauses: einem Eckturm und einer umlaufenden Veranda, Erkerfenstern und ausgekragten Schornsteinen, einem Giebeldach und schindelverkleideten Wänden. Keine anderen Häuser in Sicht, kaum ein weiteres Anzeichen von Zivilisation, kaum überhaupt etwas außer dem gewaltigen Himmel von Nebraska, der sich über ihnen wölbte.
    Im ersten Moment glaubte Lucy, das sei nur ein Jux, eine kitschige Touristenattraktion oder ein Vergnügungspark. Sie waren in der Sommerdämmerung angekommen, und da stand der einsame Leuchtturm des Motels und dahinter die lächerlich schaurige Silhouette des alten Hauses. Lucy fand, dass ein Vollmond auch
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