Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition)
Autoren: Dan Chaon
Vom Netzwerk:
ganz gut hingepasst hätte, dazu ein Käuzchen in einem kahlen Baum, und George Orson stieß einen Seufzer aus.
    «Da wären wir also», sagte er. Er musste gewusst haben, wie das auf sie wirken würde.
    «Das ist es?», sagte Lucy, und sie konnte die Ungläubigkeit in ihrer Stimme nicht unterdrücken. «Moment mal», sagte sie. «George? Hier werden wir wohnen?»
    «Fürs Erste», sagte George Orson. Er warf ihr einen bedauernden Blick zu, als sei er ein bisschen von ihr enttäuscht. «Nur fürs Erste, Süße», sagte er, und sie bemerkte, dass sich in der abgestorbenen Hecke an der einen Seite des Motel-Hofes ein paar Steppenläufer verfangen hatten. Steppenläufer! So was hatte sie noch nie gesehen, außer in Filmen über Geisterstädte im Wilden Westen, und da war es schwierig, nicht ein bisschen auszuflippen.
    «Wie lange ist es schon unbewohnt?», fragte sie. «Ich hoffe, es ist nicht voller Mäuse oder –»
    «Nein, nein», sagte George Orson. «Eine Putzfrau kommt ziemlich regelmäßig hier raus, es ist bestimmt nicht so schlimm. Nicht verlassen oder so.»
    Sie spürte, wie seine Augen ihr folgten, als sie ausstieg und vorn um den Wagen herum auf die rote Tür des Leuchtturms zuging. Über der Tür stand BÜRO. Und dann war da noch ein weiteres unbeleuchtetes Neonschild, das erklärte:
    KEINE ZIMMER FREI.
    Früher war es mal ein ziemlich beliebtes Motel gewesen. Das zumindest hatte ihr George Orson erzählt, während sie durch Indiana oder Iowa oder einen anderen Staat in der Preislage fuhren. Es sei nicht direkt ein Resort , sagte er, aber schon ziemlich schick – «Damals, als es noch einen See gab», hatte er gesagt, und sie verstand nicht ganz, was er meinte.
    «Klingt romantisch», hatte sie gesagt: Das war, bevor sie es sah. Sie hatte sich einen dieser Gasthöfe am See vorgestellt, über die man in Romanen las, wo zurückhaltende Briten hinfuhren, sich verliebten und existenzielle Erlebnisse hatten.
    «Nein, nein», sagte George Orson. «Nicht direkt.» Er hatte versucht, sie vorzuwarnen. «Romantisch würde ich es nicht nennen. Nicht im jetzigen Zustand», sagte er. Er erklärte, dass der See – eigentlich ein Stausee – wegen der Dürre angefangen habe auszutrocknen, all die gierigen Farmer, sagte er, die ihre staatlich subventionierten Felder bewässerten und einfach immer weiter bewässerten, und ehe man sichs versah, sei der See auf ein Zehntel seiner ursprünglichen Größe zusammengeschrumpft. «Damit fing natürlich auch der Tourismus an, immer mehr zurückzugehen», sagte George Orson. «Angeln, Wasserski und Schwimmen gestalten sich in einem ausgetrockneten Becken nun mal eher schwierig.»
    Er hatte es durchaus anschaulich beschrieben, aber erst als sie vom Hügel aus hinunterschaute, begriff sie.
    Er hatte nicht übertrieben. Es gab gar keinen See mehr, sondern lediglich ein nacktes Tal – einen Krater, der früher einmal Wasser enthalten hatte. Ein Pfad führte hinunter zum «Strand», und ein Bootssteg reichte weit hinaus in ein Meer von Sand und hohem gelbem Präriegras, mit verschiedenen Sträuchern übersät, die sich, wie sie annahm, irgendwann in Steppenläufer verwandeln würden. Eine verwitterte alte Boje lag auf der Seite inmitten der Staubverwehungen. Dann sah sie, was einst die andere Seite des Sees gewesen war, das jenseitige Ufer, das, in vielleicht fünf Kilometern Entfernung, das leere Becken begrenzte.
    Als Lucy sich umdrehte, sah sie, wie George Orson den Kofferraum des Wagens öffnete und den größten ihrer Koffer herauszog.
    «Lucy?», sagte er und versuchte, seine Stimme zugleich munter und beflissen klingen zu lassen. «Sollen wir?»
    Sie sah ihm nach, wie er am Turm des Leuchtturm-Büros vorbeiging und die Betontreppe hinaufzusteigen begann, die zum alten Haus führte.

3
    ALS DER ERSTE Andrang von Wagemut zu versiegen begonnen hatte, näherte sich Miles bereits dem Polarkreis. Er fuhr mittlerweile seit Tagen durch Kanada, schlief immer wieder für eine Weile im Auto, wachte auf und fuhr weiter, auf jedem nach Norden führenden Highway, den er fand, neben sich auf dem Beifahrersitz einen Haufen origamigefalteter Straßenkarten. Die Namen der Orte, an denen er vorbeikam, waren zunehmend phantastisch geworden – Destruction Bay, der Große Sklavensee, Ddhaw Ghro, Tombstone Mountain –, und als er schließlich Tsiigehtchic erreichte, saß er bei laufendem Motor vor dem Willkommensschild der Gemeinde und starrte auf das Gewimmel von Buchstaben, als traute er
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher