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Kuehler Grund

Titel: Kuehler Grund
Autoren: Stephen Booth
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    Das jähe grelle Licht tat den Augen der jungen Frau weh, als sie aus der Hintertür des Cottage ins Freie stürzte. Sie hastete barfuß über die Steinfliesen, und das Haar floss ihr in roten Wellen über die nackten Schultern.
    Das Gezeter aus dem Haus endete abrupt, als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel. Während sie den Gartenweg entlanglief, wirbelte zwischen den Platten der Staub der sonnengedörrten Erde auf. Der Dorn einer scharlachroten Strauchrose, die halb über den Weg rankte, riss ihr beim Vorbeilaufen den Arm auf, doch sie nahm den Schmerz kaum wahr.
    »Warte!«, rief sie.
    Aber das alte hölzerne Gartentor war schon geräuschvoll zugeschlagen, bevor sie es erreichte. Sie reckte sich über die Trockenmauer und hielt den alten Mann auf der anderen Seite am Ärmel fest. Trotz der Hitze trug er eine Wolljacke, und durch den Stoff hindurch fühlte sich sein Arm steif und sehnig an. Als die junge Frau fester zugriff, spürte sie, wie sich seine Muskeln über die Knochen schoben, als wäre sie mit ihrer Hand tief in seinen Körper eingedrungen.
    Harry Dickinson blieb stehen und drehte den Kopf weg, um der Bitte in den Augen seiner Enkelin zu entgehen. Die einzige Veränderung in seinem Gesicht war ein leichtes Zucken der Mundwinkel, als er an Helen vorbei über die Reihe der steinernen Cottages blickte. Die Mauern mit den weiß gestrichenen Sprossenfenstern, die bereits im abendlichen Schatten lagen, kühlten allmählich ab, obwohl die Sonne noch immer tief über den Schieferdächern hing und gnadenlos vom Himmel brannte.
    Harrys Pupillen zogen sich zu ausdruckslosen schwarzen Punkten zusammen, bis er den Kopf wendete, sodass ihn der Schirm seiner Mütze gegen die Sonne schützte.
    Helen stieg der Geruch von Erde, Schweiß und Tieren in die Nase, der tief in die Wolle der Jacke eingedrungen war und nur überlagert wurde von dem vertrauten Duft kalten Tabakrauches. »Es hat keinen Sinn, einfach zu verschwinden. Früher oder später musst du den Tatsachen ja doch ins Gesicht sehen. Du kannst nicht ewig davonlaufen.«
    Ein lautes Knattern, das hinter Harry durch das Tal hallte, ließ ihn zusammenfahren. Seit über einer Stunde rollte der Lärm nun schon über den dichten Wald, der bis in die Talsenke hinunterreichte. Das Geräusch prallte von den gegenüberliegenden Hängen zurück wie das wütende Flügelschlagen eines Vogels, hämmerte auf Ginster und Heidekraut ein und erschreckte die Schafe auf den höher gelegenen Hängen.
    »Wir würden es verstehen«, sagte Helen. »Wir sind doch deine Familie. Wenn du nur mit uns reden würdest …«
    Der alte Mann hielt den rechten Arm unnatürlich abgeknickt, sodass sich der Ärmel seiner Jacke zu einer hässlichen Ziehharmonika zusammenschob.
    Helen wusste, dass die Wälder eine starke Anziehungskraft auf Harry ausübten, der er sich kaum entziehen konnte, auch wenn er sich noch so sehr dagegenstemmte. Einen Moment lang wirkte er unentschlossen, doch dann schienen die widerstreitenden Emotionen seine Abwehr noch zu verstärken. Seine Miene drückte Entschlossenheit aus, bei seinem einmal gefassten Entschluss zu bleiben.
    »Granddad? Bitte.«
    Sie spürte die scharfen Kanten der Gartenmauer durch ihre Shorts, und der linke Handteller tat ihr weh, wo sie sich an den schartigen Decksteinen aufgeschürft hatte. Nachdem sie, von ihren Gefühlen überwältigt, hinter ihm hergestürzt war, wusste sie nicht mehr, was sie sagen sollte. Sie spürte die Machtlosigkeit der Konventionen, die die Kommunikation unter Erwachsenen regelten, selbst wenn sie zur selben Familie gehörten. Genau wie ihrem Großvater fehlten auch ihr die Worte, um ihre Gefühle auszudrücken. Vor allem den Menschen gegenüber, die ihr am nächsten standen.
    »Grandma ist wütend«, sagte Helen. »Aber sie beruhigt sich bald wieder. Sie macht sich doch nur Sorgen um dich.«
    Helen war bei Harry immer ohne viele Worte ausgekommen. Er hatte stets genau gewusst, was sie wollte, und auf ihren Blick reagiert, auf das schüchterne Lächeln, auf den Sonnenglanz in ihrem Haar, auf die kleine Hand, die sich vertrauensvoll in die seine legte. Doch dieses Kind gab es nicht mehr, schon seit Jahren nicht mehr. Als Lehrerin hatte sie sich eine andere Form der Verständigung aneignen müssen, basierend auf Distanz, nicht auf Nähe. Aber Harry verstand sie noch immer. Er wusste, was sie in diesem Augenblick von ihm wollte. Doch er konnte es nicht tun, weil es seinen lebenslangen Gewohnheiten widersprach.
    Nach und
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