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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition)
Autoren: Dan Chaon
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sich lange gegenseitig an. Eleanor Roosevelt winkte ihnen, lächelnd, von oben herab zu, und eine Hoffnung ballte sich in ihr, wie eine warme, weiche Faust. «Ja», sagte sie.
     
    Ja. Ihr gefiel diese Vorstellung: Du erfindest dich selbst .
    Sie waren dabei, einen sauberen Schlussstrich zu ziehen. Ein neues Leben anzufangen. War es nicht genau das, was sie schon immer gewollt hatte? Vielleicht könnten sie sogar ihre Namen ändern, sagte George Orson.
    «Ich bin es langsam leid, George Orson zu sein», verriet er ihr in beiläufigem Ton. Gerade fuhren sie mitten durch Illinois in seinem Maserati mit heruntergeklapptem Verdeck. Ihr nicht zu bändigendes Haar wellte sich hinter ihr, sie trug eine Sonnenbrille und musterte sich kritisch im Außenspiegel. «Wie steht’s mit dir?», sagte George Orson.
    «Wie steht was mit mir?», fragte Lucy. Sie hob den Kopf.
    «Was wärst du gern, wenn du nicht Lucy wärst?», fragte George Orson.
     
    Gute Frage.
    Sie hatte ihm zwar keine Antwort gegeben, aber unwillkürlich angefangen, darüber nachzudenken, sich – beispielsweise – vorzustellen, dass sie gern die Sorte Mädchen wäre, die den Namen einer berühmten Stadt trug. Vienna , dachte sie, das wäre hübsch. Oder London , was ironisch und leicht geheimnisvoll klänge, dabei gleichzeitig ein bisschen nach Wildfang. Alexandria: stolz und hoheitsvoll.
    Lucy dagegen war der Name einer grauen Maus. Ein komischer Name. Die Leute dachten dabei an eine Fernsehschauspielerin von slapstickhafter Ungeschicklichkeit oder an das herrische Mädchen aus den Peanuts . An den grauenhaften alten Countrysong, den ihr Vater früher immer gesungen hatte: You picked a fine time to leave me, Lucille.
    Sie wäre froh gewesen, ihren Namen loszuwerden, wenn ihr nur ein guter Ersatz eingefallen wäre. Anastasia? Eleanor?
    Aber sie sagte nichts, denn ein Teil von ihr befürchtete, solche Namen könnten ein bisschen ordinär und gleichzeitig schulmädchenhaft klingen. Namen, die ein Mädchen aus der Unterschicht von Pompey, Ohio, für schick halten mochte.
     
    Eins der schönen Dinge an George Orson war, dass er nicht viel über ihre Vergangenheit wusste.
    Sie redeten zum Beispiel nie über ihre Eltern, über den Autounfall im Sommer vor ihrem letzten Schuljahr – ein alter Mann war über eine rote Ampel gefahren, als sie gerade unterwegs zum Baumarkt waren, um ein paar heruntergesetzte Tomatenpflänzchen zu kaufen. Beide tot, ihre Mutter allerdings erst, nachdem sie einen Tag lang im Koma gelegen hatte.
    Die Tatsache, dass die Leute in der Schule davon erfahren hatten, war ihr immer wie ein Einbruch in ihre Intimsphäre vorgekommen. Eine Sekretärin hatte Lucy ihr Beileid ausgesprochen, und Lucy hatte – huldvoll, wie sie glaubte – genickt, obwohl sie es in Wirklichkeit als irgendwie widerlich empfunden hatte, dass diese wildfremde Person über ihr Privatleben Bescheid wusste. Wie kannst du es wagen , hatte Lucy im Nachhinein gedacht.
    George Orson dagegen hatte ihr nie kondoliert, obwohl er vermutlich Bescheid wusste. Grob jedenfalls.
    Er wusste zum Beispiel, dass sie mit ihrer Schwester, Patricia, zusammenwohnte, auch wenn er ihr, zu Lucys großer Erleichterung, nie begegnet war. Patricia, selbst erst zweiundzwanzig, nicht sehr helle, Patricia, die an den meisten Abenden der Woche im Circle-K-Supermarkt arbeitete und zu der Lucy seit dem Begräbnis immer weniger Kontakt hatte.
    Patricia war eins dieser Mädchen, die fast ihr ganzes Leben lang von den Leuten ausgelacht worden waren. Sie lispelte, stark und spuckereich, auf eine leicht nachzuahmende, comichafte Weise, eine Idioten-Sprachbehinderung. Sie war nicht direkt fett, aber an allen falschen Stellen wulstig und sah mit ihrer bedauerlich ausladenden, gluckenartigen Figur schon als junges Mädchen wie eine Frau mittleren Alters aus.
    Einmal, als sie auf dem Weg zur Grundschule waren, hatten ein paar Jungen sie verfolgt und mit Steinchen beschmissen.
     
    Patricia, Patrasch
    Hat einen fetten Arsch!
     
    sangen die Jungen.
    Und das war das letzte Mal, dass Lucy sich zusammen mit Patricia hatte blicken lassen. Ab dann hatten sie begonnen, nach der Schule getrennte Wege zu gehen, was Patricia nie kommentiert hatte; sie hatte einfach die Tatsache akzeptiert, dass nicht einmal ihre Schwester mit ihr die Straße entlanggehen wollte.
    Nach dem Tod ihrer Eltern war Patricia Lucys Vormund geworden – war es offiziell vielleicht noch immer? Obwohl Lucy inzwischen fast neunzehn war. Nicht, dass es
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