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Tote Mädchen

Tote Mädchen

Titel: Tote Mädchen
Autoren: Richard Calder
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Puppenherzblut
    Mit künstlichen Augen aus finster feurigem Glas betrachtet Richard Calder eine Welt, die er schaffen musste, weil sie ihn dazu gezwungen hat. Sie ähnelt unserer nur insoweit, als sich in ihr deutlich aussprechen lässt, was in unserer nur verdruckst gemurmelt wird: 1. Niemand versteht, was alle bewegt; 2. Technik und Zauberei, zwei austauschbare Begriffe, sind unter den gegebenen Umständen der unterlassenen Hilfeleistung aller für alle nur zynische Göttinnen, die mit den Menschen spielen und dabei deren Freiheit einschränken, statt Werkzeuge zu sein, die von ihnen benutzt werden, um ihre Freiheit zu vergrößern; 3. Verlierer sein gilt als hässlich; 4. Der Kältere gewinnt; 5. Das Heilige ist eine magische, technische und soziale Vorrichtung zur Ermöglichung von Tempelprostitution; 6. Schöne oder kluge Menschen werden nicht gefeiert als Möglichkeiten, die in jeder und jedem angelegt sind, sondern zu Sachen hergerichtet, die reichen Menschen gehören; 7. Die Gewinner bekommen aufgrund der scheußlichen Beschaffenheit des Gesamtspiels, das der Menschenwürde überall ins Gesicht spuckt, auch nicht mehr als die Verlierer ‒ der einzige Unterschied ist, dass Erstere Letztere ungestraft erniedrigen dürfen.
    Calder, der in einem unheimlichen Winkel eines Staates lebt, der einst die halbe Welt beherrscht hat, weiß, wie man diese schlimmen Befunde immer wieder neu als Filter der Wahrnehmung des Wahren durch die Prismen der dichterischen Unwirklichkeit gruppieren kann.
    Ungefähr zehn Jahre lang, zwischen 1993 und 2005, hat der ehemalige Literaturprofessor die flackernden Lichterscheinungen, die Blitze der Qual und der hochfahrenden Hoffnung auf ein besseres Leben in Romanen und Erzählungen eingefangen. Sie alle handeln davon, dass auch unter der Herrschaft von halbmechanischen, hyperdimensionalen Teufeln mit Krallen aus Geld so etwas wie Schönheit möglich ist: In der Selbstverbrennung unbeugsamer Leidenschaften, im Versprechen sinnloser, gesetzeswidriger, den Mächtigsten trotzender Liebe, im Dienst an einem Gesicht, ohne das man nicht leben möchte, in der verspielten Unerziehbarkeit diabolischer Kinder, die ihre Eltern, Herrn und Frau Teufel, als phantasielose Pedanten entlarven und das Inferno als einen Spielplatz, der zu klein ist für Geschöpfe, die Alpträume und künstliche Paradiese erfinden können.
    Die künstlerisch gestaltete Wahrheit über unhaltbare Verhältnisse ist die stärkste Droge, welche die Menschheit kennt. Sie versetzt in einen Zustand der erhöhten Aufmerksamkeit und der transzendenten Erregung, den diese Verhältnisse nicht mehr erreichen, nicht mehr trüben können ‒ so wie den Opiumrauchern ihre Gehorsamspflichten gleichgültig werden, lässt die Erkenntnis, dass die Welt die Hölle ist, alle Autoritätsansprüche der Folterknechte dieser Hölle zu Asche zerfallen.
    Auf dem Höhepunkt seiner Nachtfahrt ins Innerste solcher Offenbarungen hat Calder 2005 mit dem Roman »Babylon« ein Hochplateau erreicht, auf dem die angebliche Vorgeschichte der Zivilisation, ihrer trügerischen Gegenwart und die von ihr erzählten Lügen über die Zukunft im Monumentalgemälde einer anderen Wirklichkeit zusammenfließen, das denen, die es betrachten, ebenso zärtlich wie heimtückisch enthüllt, wer sie sind: Monster, die keine sein müssten.
    Wenige Kritiker (darunter John Clute) haben erkannt, was Calder mit »Babylon« geglückt ist: der toten Leere des Unnatürlichen und Übernatürlichen, vor dem sich Menschen seit Urzeiten fürchten, in die Karten zu schauen und zu erkennen, dass dieses Un- und Übernatürliche schon immer menschengemacht war ‒ nämlich etwas, das ungerechte, habgierige und vor jeder Selbsterkenntnis fliehende Leute anderen Leuten antun, weil sie nicht zulassen können, dass ohne Lüge und Angst gelebt wird, von den babylonischen Priestern bis zu Hitler und darüber hinaus.
    »Babylon« ist die letzte Stufe der Calderschen Treppe aus verwunschenen Büchern (darunter sind so erschütternde wie die beiden Liebesgeschichten zwischen Ungeheuern, »Cythera« und »Frenzetta«, beide 1998 erschienen), auf denen er emporgestiegen ist zur Opferstelle, wo wir unsere höheren Möglichkeiten unserer niedrigen Bereitschaft zum Fraß vorwerfen, uns mit konsumfrommem, trägem, einfallslosem Dreck abspeisen zu lassen.
    Das Buch jedoch, zu dem dieses Vorwort gehört, war die erste jener Stufen.
    Mit »Tote Mädchen« begann der Kreuzweg einer verrückten Dichterseele,
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