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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition)
Autoren: Dan Chaon
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sauber gestutzten Bart und einem Gesichtsausdruck, der zugleich mitfühlend und eindringlich sein konnte. Seine Zähne waren makellos, sein Körper straff und sogar versteckt athletisch, obwohl er, wie er sagte, tatsächlich «etwas über dreißig» war.
    Seine Augen waren von einem überwältigenden Meergrün, einer so ungewöhnlichen Farbe, dass sie anfangs angenommen hatte, sie sei unecht, durch irgendwelche schicken getönten Kontaktlinsen erzeugt.
    Er blinzelte, als könnte er spüren, dass sie an seine Augen dachte.
    «Lucy? Ist alles in Ordnung?», sagte er.
    Nicht direkt. Aber sie setzte sich auf, reckte den Rücken gerade, lächelte.
    «Du siehst aus, als hätte man dich hypnotisiert.»
    «Es geht mir gut», sagte sie. Dann legte sie sich die Handflächen an den Kopf und strich sich die Haare glatt.
    Kurz schwieg sie; George Orson fixierte sie mit diesem Gedankenleserblick, den er draufhatte.
    «Es geht mir gut», sagte sie.
     
    Sie und George Orson würden eine Weile im alten Haus hinter dem Motel wohnen – nur kurz, nur bis sie alles geregelt hatten. Nur bis sich «die Wogen ein bisschen geglättet» hätten, sagte er zu ihr. Inwieweit das scherzhaft gemeint war, konnte sie nicht abschätzen. Er sprach oft ironisch, konnte Stimmen und Akzente nachmachen und aus Filmen und Büchern zitieren.
    «Wir können uns ja vorstellen, wir wären auf der Flucht», hatte er mokant gesagt, als sie in einem Empfangszimmer oder Salon saßen, inmitten von verschnörkelten Lampen und mit Laken verhängten Ohrensesseln. Sanft legte er ihr die Hand auf den Oberschenkel und tätschelte sie in einem langsamen, beruhigenden Rhythmus. Sie stellte ihre Diät-Cola auf ein Spitzendeckchen auf dem alten Couchtisch, und ein Tropfen Kondenswasser rann an der Dose hinunter.
    Sie sah nicht recht ein, warum sie nicht auch in Monaco oder auf den Bahamas, oder selbst an der mexikanischen Riviera Maya hätten auf der Flucht sein können.
    Aber – «Hab Geduld», sagte George Orson und bedachte sie mit einem seiner Blicke, einem Mittelding zwischen spöttisch und zärtlich, und beugte den Kopf zur Seite, um ihr weiter in die Augen zu sehen, als sie wegschaute. «Vertrau mir», sagte er mit dieser warmen Stimme, die er draufhatte.
    Und so musste sie zugeben, klar, es könnte alles noch schlimmer sein. Sie könnte noch immer in Pompey, Ohio, sein.
     
    Sie hatte geglaubt – war dazu gebracht worden zu glauben –, dass sie reich sein würden, und ja, natürlich war das eines der Dinge, die sie sich wünschte. «Ein Haufen Geld», hatte George Orson zu ihr gesagt, dabei die Stimme gesenkt und auf diese scheu-verschwörerische Weise zur Seite geblickt. «Sagen wir einfach, dass ich ein paar … Investitionen getätigt habe», meinte er, als ob das ein Codewort sei, das sie beide verstanden.
    Das war an dem Tag, an dem sie die Stadt verlassen hatten. Sie fuhren auf der Interstate 80, auf dem Weg zu diesem Besitz, den George Orson von seiner Mutter geerbt hatte. «The Lighthouse», sagte er. Das Lighthouse Motel.
    Seit einer knappen Stunde waren sie unterwegs, und George Orson war in spaßiger Stimmung. Er hatte früher mal in hundert verschiedenen Sprachen «hallo» sagen können und wollte jetzt sehen, ob er noch alle zusammenbekam.
    « Sdrawstwujtje », sagte George Orson. « Ni hao .»
    « Bonjour », sagte Lucy, die Französisch in der Schule gehasst hatte. Während ihrer zwei Pflichtjahre hatte ihre Lehrerin, die sanft-unnachgiebige Madame Fournier, ihnen diese unaussprechlichen Vokale immer und immer wieder vorgesprochen.
    « Päivää », sagte George Orson. « Konnichiwa . Kehro haal ahee. »
    « Hola », sagte Lucy mit der cool-ausdruckslosen Stimme, die George Orson immer so komisch fand.
    «Weißt du, Lucy», sagte George Orson vergnügt. «Wenn wir Globetrotter werden, wirst du neue Sprache lernen müssen. Du willst schließlich nicht zum amerikanischen Touristenpack gehören, das davon ausgeht, dass jeder Englisch kann.»
    «Will ich nicht?»
    «Es sei denn, du möchtest, dass dich keiner ausstehen kann.» Und dazu sein trauriges, schiefes Grinsen. Er ließ seine Hand leicht auf ihrem Knie ruhen. «Du wirst so kosmopolitisch sein», sagte er zärtlich.
     
    Das war schon immer eines der Dinge gewesen, die ihr an ihm am besten gefallen hatten. Er hatte einen beeindruckenden Wortschatz, und er hatte sie von Anfang an so behandelt, als verstünde sie, wovon er redete.
    «Du bist ein bemerkenswerter Mensch, Lucy.» Das war eines der
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