Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition)
Autoren: Dan Chaon
Vom Netzwerk:
trocknete. Er spürte das Klebeband, das ihn am Küchenstuhl festhielt, die Streifen um seine nackten Unterarme, seine Brust, seine Waden und Fußknöchel.
    Dann schloss er die Augen und versuchte sich vorzustellen, dass sein Geist zur Decke emporschwebte. Er würde aus der Küche hinauswehen, wo er und sein Vater an den harten Stühlen festgebunden waren, vorbei an der wüsten Konstruktion aus schmutzigem Geschirr, das auf der Arbeitsfläche neben der Spüle aufgestapelt stand, dem Toaster, aus dem noch ein Bagel herausschaute; er würde durch den bogenförmigen Durchgang ins Wohnzimmer treiben, wo zwei Spießgesellen in schwarzen T-Shirts Computer aus den Schlafzimmern trugen und dabei verfilzte Schwänze von Netz- und anderen Kabeln hinter sich herschleiften. Sein Geist würde ihnen durch die Haustür nach draußen folgen, am weißen Lieferwagen vorbeischweben, in den sie allerlei Zeug warfen, dann die Zufahrt hinunter und den Highway entlang, der sich durch das ländliche Michigan hinzog, und das Mondlicht würde durch die Zweige der Bäume blinken, während sein Geist an Geschwindigkeit zunahm, und die strahlenden Straßenschilder würden aus der Dunkelheit auftauchen, während er wie ein Flugzeug emporstieg und die Muster von Hauslichtern und Straßen und Flüsschen, die die Erde übersprenkelten und schraffierten, immer kleiner und kleiner wurden. Huuuuuuuuuuuuuuu – wie ein Luftballon, aus dem die Luft herausgelassen wird, eine Sirene, ein heulender Wind. Wie ein schreiender Mensch.
     
    Als er spürte, wie seine linke Hand gepackt und herumgedreht wurde, kniff er die Augen zu, biss die Zähne fest zusammen. Dabei versuchte er, an etwas anderes zu denken.
    An Musik? Eine Landschaft, einen Sonnenuntergang? Das Gesicht eines schönen Mädchens?
    «Dad», hörte er sich mit klappernden Zähnen sagen. «Dad, bitte, nimm Vernunft an, bitte, bitte, nimm –»
     
    Er würde nicht an das Schneidwerkzeug denken, das der Mann ihnen gezeigt hatte. Es war nur ein Stück Draht, ein sehr dünner, scharfer Draht mit je einem Gummigriff an beiden Enden.
    Er würde nicht daran denken, wie sein Vater seinem Blick ausweichen würde.
    Er würde nicht an seine Hand denken, an den einmal um sein Handgelenk geschlungenen Draht, an seine garrottierte Hand, den sich immer straffer anspannenden Draht. Der sich glatt durch Haut und Muskeln schnitt. Es würde einen Ruck, einen Widerstand geben, wenn er den Knochen erreichte, aber auch durch den würde er sich schneiden.

5
    UND LUCY wachte auf, und es war alles nur ein böser Traum.
    Sie hatte geträumt, dass sie noch immer in ihrem alten Leben gefangen war, noch immer in einem Klassenzimmer auf der Highschool, und sie konnte die Augen nicht öffnen, obwohl sie wusste, dass am Tisch hinter ihr ein Arschloch von einem Jungen saß, der ihr irgendwelches Zeugs in die Haare schnippte – Popel oder möglicherweise auch fest gerollte Kügelchen aus Kaugummi –, aber sie schaffte es nicht, aufzuwachen, obwohl jemand an die Tür klopfte. Eine Sekretärin stand vor der Tür mit einem Zettel, auf dem es hieß: Lucy Lattimore, bitte melden Sie sich beim Direktor. Ihre Eltern hatten einen schrecklichen Unfall –
     
    Doch nein. Sie öffnete die Augen, und es war lediglich ein früher Abend im Juni, draußen schien noch die Sonne, und sie war vor dem Fernseher im Alkovenzimmer im Haus von George Orsons Eltern eingeschlafen, und es lief ein alter Schwarz-Weiß-Film, ein Video, das sie in einem Stapel neben der museumsreifen Fernsehtruhe gefunden hatte –
    «Warum bleiben Sie nicht für eine Weile und ruhen sich aus und lauschen der See?», sagte die Dame in dem Film.
    Sie konnte George Orson hören, der in der Küche etwas auf dem Schneidbrett hackte – ein konzentrierter klopfender Rhythmus, der sich in ihren Traum eingeschlichen hatte.
    «Es ist so beruhigend», sagte die Frau in dem Film. «Hören Sie hin. Lauschen Sie der See …»
    Es dauerte eine Weile, bis Lucy merkte, dass das Klopfen aufgehört hatte, und als sie den Kopf hob, stand George Orson in seiner roten Kochschürze in der Tür und hielt das silberfarbene Gemüsemesser in der herunterhängenden Hand.
    «Lucy?», sagte George Orson.
    Sie setzte sich auf und versuchte, sich wieder auf die reale Welt zu eichen, während George Orson den Kopf schief legte.
    Sie fand, dass er gut aussah, «gut» auf eine konservative, salopp intellektuelle Art, die man in Pompey, Ohio, so gut wie nie sah, mit kurzgeschorenem braunem Haar, einem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher