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Bitterzart

Bitterzart

Titel: Bitterzart
Autoren: Gabrielle Zevin
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und sie wachte auf.
    »Anya«, krächzte sie. »Wann bist du nach Hause gekommen?«
    Ich erwiderte, ich sei schon länger zurück. Sie würde den Unterschied eh nicht bemerken und sich nur Sorgen machen, wenn sie erfuhr, wo ich gewesen war. Dann sagte ich ihr, sie solle weiterschlafen, ich hätte sie nicht aufwecken wollen. »Du brauchst deinen Schlaf, Nana.«
    »Wofür denn? Auf mich wartet bald der ewige Schlaf.«
    »Red nicht so! Du wirst noch sehr lange leben«, log ich.
    »Leben und am Leben sein ist nicht dasselbe«, murmelte sie und wechselte dann das Thema. »Morgen ist der erste Schultag.«
    Ich staunte, dass sie sich daran erinnerte.
    »Hol dir einen schönen Schokoriegel aus dem Schrank, Anyeschka, ja?«
    Ich tat wie geheißen, legte den Riegel aus meiner Tasche zurück in den Safe und ersetzte ihn durch einen anderen von derselben Sorte.
    »Zeig ihn niemandem«, mahnte Nana. »Und teil ihn dir nur mit jemandem, den du wirklich liebst.«
    Leichter gesagt als getan, dachte ich, versprach aber, das zu beherzigen. Dann drückte ich noch einen Kuss auf die papierene Wange meiner Großmutter und schloss leise die Tür hinter mir. Ich hatte Nana wirklich lieb, aber in diesem schrecklichen Zimmer hielt ich es nicht lange aus.
    Als ich ins Wohnzimmer zurückkehrte, war Gable nicht mehr da. Ich wusste, wo er zu finden sein würde.
    Er lag mitten auf meinem Bett und schlief. Das war meiner Meinung nach das Problem beim Koffeinkonsum. Probierte man nur ein bisschen, bekam man einen netten Schwips. Nahm man aber zu viel davon, war man erledigt. So war das zumindest bei Gable. Ich trat ihm vorsichtig gegen das Bein. Er wachte nicht auf. Ich trat erneut zu, diesmal härter. Er stöhnte nur leise und drehte sich auf den Rücken. Also entschloss ich mich dazu, ihn seinen Rausch ausschlafen zu lassen. Wenn es hart auf hart käme, würde ich auf der Couch übernachten. Außerdem war Gable niedlich, wenn er schlief. Er wirkte so harmlos wie ein junger Hund oder ein kleiner Junge.
    Ich holte meine Schuluniform aus dem Schrank und hängte sie für den nächsten Tag über meinen Schreibtischstuhl. Dann packte ich meine Tasche und lud meinen Tablet auf. Ich brach ein Stückchen von der dunklen Schokolade ab. Sie schmeckte kräftig und nach Wald. Den Rest wickelte ich wieder in die Alufolie und legte ihn in die oberste Schublade. Zum Glück hatte ich die Schokolade nicht mit Gable teilen müssen.
    Ich kann verstehen, wenn man sich fragt, warum Gable mein Freund war, obwohl ich nicht mal meine Schokolade mit ihm teilen wollte. Nun ja, er war kein Langweiler. Gable war ein wenig anrüchig, und dumm, wie ich war, fand ich das wohl anziehend, zumal man durchaus behaupten konnte, dass es mir an positiven männlichen Vorbildern mangelte. Gott sei deiner Seele gnädig, Daddy. Außerdem war es nichts Alltägliches, miteinander Schokolade zu teilen: Sie war wirklich sehr schwer zu bekommen.
    Ich beschloss zu duschen, damit ich das nicht am nächsten Morgen machen musste. Als ich neunzig Sekunden später herauskam (Duschen hatten damals Zeitschaltuhren eingebaut, weil Wasser immer teurer wurde), saß Gable im Schneidersitz auf meinem Bett und schob sich den Rest meines Schokoriegels in den Mund.
    »He!«, rief ich, das Handtuch um mich geschlungen. »Du warst an meiner Schublade!«
    Er hatte Schokoladenflecken am Daumen, am Zeigefinger und in den Mundwinkeln. »Ich hab nicht danach gesucht. Ich hab sie gerochen«, erklärte er schmatzend. Dann hielt er kurz inne, um mich zu betrachten. »Du siehst hübsch aus, Annie. So sauber.«
    Ich zog das Handtuch enger um mich. »Da du jetzt wach bist und deine Schokolade bekommen hast, kannst du ja gehen«, sagte ich.
    Er rührte sich nicht.
    »Na, los! Raus mit dir!«, sagte ich mit Nachdruck, wenn auch nicht sehr laut. Ich wollte meine Geschwister und Nana nicht wecken.
    Da sagte Gable, er fände, wir sollten miteinander schlafen.
    »Nein«, entgegnete ich und ärgerte mich, so dumm gewesen zu sein und zu duschen, während ein Junge mit Koffeinrausch in meinem Bett auf der Lauer lag. »Auf gar keinen Fall.«
    »Warum nicht?«, fragte er zurück. Dann sagte er, er sei in mich verliebt. Es war das erste Mal, dass ein Junge so etwas behauptete. So unerfahren ich auch war, merkte ich doch, dass er es nicht ehrlich meinte.
    »Ich möchte, dass du jetzt gehst«, sagte ich. »Wir haben morgen Schule und müssen beide ausgeschlafen sein.«
    »Ich kann nicht mehr gehen. Es ist schon nach zwölf.«
    Nicht
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