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Bitterzart

Bitterzart

Titel: Bitterzart
Autoren: Gabrielle Zevin
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dass es genug Polizisten gegeben hätte, um die Sperrstunde auch durchzusetzen, dennoch herrschte ab Mitternacht Ausgangssperre und sie galt in der ganzen Stadt für alle Personen unter achtzehn. Es war aber erst Viertel vor zwölf, deshalb log ich ihm vor, er könne es noch schaffen, wenn er sich beeile.
    »Das schaffe ich niemals, Annie. Außerdem sind meine Eltern nicht zu Hause, und deine Großmutter bekommt doch gar nicht mit, wenn ich hier übernachte. Los, komm, sei lieb zu mir!«
    Ich schüttelte den Kopf und versuchte, entschlossen dreinzuschauen, was in einem geblümten gelben Handtuch nicht ganz leicht war.
    »Bedeutet es dir denn gar nichts, dass ich dir gerade meine Liebe gestanden habe?«, fragte Gable.
    Ich dachte kurz darüber nach und kam zu dem Schluss, dass es wirklich nichts bedeutete. »Eigentlich nicht. Solange ich weiß, dass du es nicht ernst meinst.«
    Er sah mich mit seinen großen dummen Augen an, als hätte ich ihn gerade verletzt. Dann räusperte er sich und versuchte es mit einer anderen Strategie. »Komm, Annie! Wir sind seit fast neun Monaten zusammen. So lange bin ich noch bei keiner geblieben. Also … ich meine … Warum nicht?«
    Ich zählte ihm meine Gründe auf. Erstens, sagte ich, wären wir zu jung. Zweitens würde ich ihn nicht lieben. Und drittens, und das sei am wichtigsten, würde ich nichts von Sex vor der Ehe halten. Ich war im Großen und Ganzen ein frommes katholisches Mädchen und wusste genau, wohin mich das am Ende bringen würde: direkt in die Hölle. Und um das einmal festzuhalten: Ich glaubte felsenfest an Himmel und Hölle, und zwar nicht im übertragenen Sinn. Dazu aber später mehr.
    Gables Blick war nun ein klein wenig irre – vielleicht lag es an der Schmuggelware, die er sich gerade einverleibt hatte –, er stand vom Bett auf und kam auf mich zu. Dann begann er meine nackten Arme zu kitzeln.
    »Hör auf!«, sagte ich. »Im Ernst, Gable, das ist nicht komisch. Du willst ja nur, dass ich das Handtuch fallen lasse.«
    »Warum hast du denn überhaupt geduscht, wenn du nicht willst, dass …«
    Ich drohte ihm an zu schreien.
    »Und dann passiert was ?«, fragte er. »Deine Großmutter kann nicht aus dem Bett. Dein Bruder ist behindert. Und deine Schwester ist noch ein kleines Kind. Wenn du schreist, bekommen sie nur Angst.«
    Ein Teil von mir konnte nicht fassen, dass dies tatsächlich in meiner eigenen Wohnung geschah. Dass ich so fahrlässig und dumm gewesen war. Ich zog mir das Handtuch bis unter die Achselhöhlen und stieß Gable von mir, so heftig ich konnte. »Leo ist nicht behindert!« , rief ich.
    Am Ende des Flurs öffnete sich eine Tür, dann hörte ich Schritte. In der Tür erschien Leo, der so groß war wie Daddy (eins dreiundneunzig) und einen Schlafanzug mit einem Muster aus Hunden und Knochen trug. Auch wenn ich die Situation im Griff hatte, war ich noch nie so froh gewesen, meinen großen Bruder zu sehen. »Hi, Annie!« Leo nahm mich kurz in den Arm, ehe er sich an meinen baldigen Exfreund wandte. »Hallo, Gable«, sagte er. »Ich habe Krach gehört. Du gehst jetzt besser nach Hause. Du hast mich geweckt, das ist in Ordnung. Aber wenn du Natty aufweckst, ist das nicht gut, weil sie morgen zur Schule gehen muss.«
    Leo führte Gable zur Eingangstür. Ich entspannte mich erst, als ich hörte, wie sie ins Schloss fiel und Leo die Kette vorlegte.
    »Ich finde deinen Freund nicht besonders nett«, sagte er, als er zurückkam.
    »Weißt du was? Das sehe ich genauso«, erwiderte ich. Ich sammelte das von Gable weggeworfene Schokoladenpapier ein und zerknüllte es zu einer Kugel. Nach Nanas Maßstab war der einzige Junge in meinem Leben, der es wert war, meine Schokolade mit ihm zu teilen, mein Bruder.

    Der erste Schultag war ätzender als die meisten ersten Schultage, und die sind generell ätzend. Alle wussten bereits, dass es aus war mit Gable Arsley und Anya Balanchine. Das nervte. Nicht weil ich nach dem Auftritt, den Gable sich in der vergangenen Nacht geleistet hatte, die Absicht gehabt hätte, weiter mit ihm zusammenzubleiben, sondern weil ich diejenige sein wollte, die Schluss machte. Ich wollte, dass er heulte, sich lautstark beschwerte oder entschuldigte. Ich hatte ohne einen Blick zurück davonstolzieren wollen, während er mir nachrief. So hatte ich mir das vorgestellt.
    Ich muss zugeben: Es war erstaunlich, wie schnell sich Nachrichten verbreiteten. Minderjährige durften gar keine Handys besitzen, und niemand, egal wie alt, durfte ohne
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