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Bitterzart

Bitterzart

Titel: Bitterzart
Autoren: Gabrielle Zevin
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und reichte mir zwei Kerzengutscheine.
    »Mit Kerzen sollen wir jetzt auch noch sparsam sein«, brummte ich. Durch die zahllosen albernen Gutscheine und Wertmarken (sollten wir nicht eigentlich Papier sparen?), durch das willkürliche Punktesystem und die sich ständig ändernden Vorschriften waren Rationierungen unglaublich nervig und unmöglich einzuhalten. Es war kein Wunder, dass der Schwarzmarkt florierte.
    »Sieh ’s mal positiv. Hostien darf man immer noch so viele haben, wie man möchte«, erwiderte Mutter Piousina.
    Ich nahm die Gutscheine entgegen und dankte ihr. Auch wenn ich nicht wusste, was das Entzünden von Kerzen groß helfen sollte. Ich war mir ziemlich sicher, dass mein Vater in der Hölle saß.
    Nachdem ich einer Nonne mit einem Weidenkorb und einer Schachtel Votivkerzen die Gutscheine gereicht hatte, ging ich in die Kapelle und zündete eine Kerze für meine Mutter an.
    Ich hoffte, dass Mom irgendwie außerhalb der Hölle gelandet war, obwohl sie den Anführer der kriminellen Balanchine-Sippe geheiratet hatte.
    Auch für meinen Vater zündete ich eine Kerze an.
    Ich betete, dass die Hölle nicht so schlimm war, auch nicht für einen Mörder.
    Sie fehlten mir beide so sehr.
    Meine beste Freundin Scarlet wartete im Gang vor der Kapelle auf mich. »Fechten gleich am ersten Tag schwänzen? Nicht schlecht, Miss Balanchine«, sagte sie und schob mir ihren Arm unter. »Keine Sorge. Ich habe dich entschuldigt. Hab gesagt, es gäbe noch Probleme mit deinem Stundenplan.«
    »Danke, Scarlet.«
    »Gern geschehen. Ich weiß jetzt schon genau, was das für ein Schuljahr wird. Sollen wir in den Speisesaal gehen?«
    »Hab ich eine Wahl?«
    »Ja, du kannst dich auch den Rest des Schuljahrs in der Kapelle verstecken«, gab sie zurück.
    »Vielleicht werde ich sogar Nonne und entsage den Männern für immer.«
    Scarlet sah mir ins Gesicht. »Nein. Dein Gesicht würde sich in einer Ordenstracht nicht gut machen.«
    Während wir zum Speisesaal gingen, brachte mich Scarlet auf den neusten Stand, was Gable herumerzählt hatte. Das meiste hatte ich bereits gehört. Die wichtigsten Punkte waren, dass er angeblich mit mir Schluss gemacht hätte, weil er dachte, ich sei koffeinabhängig, weil ich »so was wie eine Schlampe« wäre und weil der Beginn des neuen Schuljahrs ein guter Anlass sei, »Altes auszumisten«. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass Daddy, würde er noch leben, Gable Arsley wahrscheinlich hätte umbringen lassen. »Nur dass du es weißt«, sagte Scarlet. »Ich habe deine Ehre verteidigt.«
    Das glaubte ich ihr gerne, aber leider hörte ihr nie jemand zu. Man hielt Scarlet für melodramatisch und hysterisch. Hübsch anzusehen, aber nicht ernst zu nehmen.
    »Egal«, sagte sie. »Jeder weiß, dass Gable Arsley ein Riesenarschloch ist. Morgen wird schon keiner mehr drüber reden. Die zerreißen sich eh nur den Mund, weil sie Loser sind und kein eigenes Leben haben. Außerdem ist heute der erste Schultag und sonst nicht viel passiert.«
    »Er hat gesagt, Leo wäre behindert. Hab ich dir das schon erzählt?«
    »Nein!«, rief Scarlet. »Das ist so gemein!«
    Wir standen vor der Flügeltür, die in den Speisesaal führte. »Ich hasse ihn«, sagte ich. »Ich hasse ihn von ganzem Herzen.«
    »Ich weiß«, sagte Scarlet und drückte die Türen auf. »Hab sowieso nie verstanden, was du an ihm fandest.« Sie war eine gute Freundin.
    Der Speisesaal hatte holzvertäfelte Wände und einen schwarzweiß karierten Linoleumboden, der mir das Gefühl gab, eine Figur in einem Schachspiel zu sein. Ich sah, dass Gable am Kopfende eines langen Tisches am Fenster thronte. Er hatte den Rücken zur Tür, so dass er mich nicht bemerkte.
    Zum Mittagessen gab es Lasagne, die ich schon immer verabscheut habe. Die rote Soße erinnerte mich an Blut und Eingeweide, der Ricottakäse an Hirngewebe. Ich hatte schon echte Eingeweide und echtes Hirngewebe gesehen und wusste daher, wovon ich sprach. So oder so war mir der Hunger vergangen.
    Kaum saßen wir, schob ich Scarlet mein Tablett zu. »Willst du?«
    »Ein Teller ist mehr als genug, danke.«
    »Gut, reden wir über was anderes«, schlug ich vor.
    »Was anderes als –«
    »Sprich seinen Namen nicht aus, Scarlet Barber!« 
    »Was anderes als das Riesenarschloch«, ergänzte Scarlet, und wir mussten beide lachen. »Übrigens, in meinem Französischkurs ist ein vielversprechender neuer Junge. Genau genommen sieht er aus wie ein Mann. Er ist so – keine Ahnung –, so männlich. Er
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