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Bitterzart

Bitterzart

Titel: Bitterzart
Autoren: Gabrielle Zevin
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Genehmigung virtuell oder anderweitig etwas veröffentlichten oder auch nur eine E-Mail schicken, ohne dafür eine Gebühr zu bezahlen, und doch suchte sich der Tratsch immer seinen Weg. Und eine gute Lüge pflanzte sich sogar noch schneller fort als die traurige, langweilige Wahrheit. Bis zur dritten Stunde war die Geschichte unserer Trennung bereits in Stein gemeißelt, und zwar nicht von mir.
    Ich schwänzte die vierte Stunde und ging stattdessen zur Beichte.
    Als ich in den Beichtstuhl trat, sah ich durch das Gitter die Umrisse von Mutter Piousina. So unglaublich es auch war: Sie war die erste weibliche Geistliche, die es an der Holy Trinity School je gegeben hatte. Obwohl wir in vorgeblich modernen Zeiten lebten und dem Vernehmen nach aufgeklärt waren, hatten sich so einige Eltern beschwert, als der Aufsichtsrat im vorigen Jahr verkündet hatte, dass die Wahl auf Mutter Piousina gefallen war. Manche Leute fühlten sich einfach nicht wohl bei der Vorstellung, eine Priesterin zu haben. Außerdem war Holy Trinity nicht nur eine katholische Schule, sondern auch eine der besseren in ganz Manhattan. Wenn Eltern die horrenden Gebühren zahlten, verlangten sie dafür, dass in der Schule alles beim Alten bliebe, egal wie sehr es überall sonst drunter und drüber ging.
    Ich kniete mich hin und schlug ein Kreuz. »Vergib mir, Mutter, denn ich habe gesündigt. Meine letzte Beichte liegt drei Monate zurück …«
    »Was betrübt dich denn, mein Kind?«
    Ich erzählte ihr, dass ich den ganzen Morgen lang unchristliche Gedanken in Bezug auf Gable Arsley gehabt hätte. Seinen Namen nannte ich nicht explizit, aber Mutter Piousina wusste wahrscheinlich eh, über wen ich sprach. Der Rest der Schule ja auch.
    »Stellst du dir vor, mit ihm Geschlechtsverkehr zu haben?«, fragte sie. »Denn die Tat wäre eine größere Sünde als der bloße Gedanke daran.«
    »Das weiß ich, Mutter«, sagte ich. »Nein, alles andere als das. Es ist so: Dieser Junge hat Gerüchte über mich verbreitet, und ich habe den ganzen Vormittag nur den Gedanken im Kopf, wie sehr ich ihn hasse. Ich würde ihn am liebsten umbringen oder ihm wenigstens ein bisschen wehtun.«
    Mutter Piousina schmunzelte, was ich ein wenig verletzend fand. »Ist das alles?«, fragte sie.
    Ich fügte hinzu, dass ich den Namen des Herrn im Laufe des Sommers mehrere Male missbraucht hatte. Am häufigsten war es mir während der großen »Klimaanlagen-Spartage« passiert, die der Bürgermeister angeordnet hatte. Einer dieser Spartage war auf den heißesten Augusttag gefallen. Bei vierzig Grad Außentemperatur und der Hitze, die Nanas zahlreiche Apparate verströmten, war unser Apartment der Definition von Hölle schon sehr nah gekommen.
    »Sonst noch was?«
    »Noch eins: Meine Großmutter ist sehr krank, und obwohl ich sie unglaublich liebhabe« – den Satz zu vollenden fiel mir sehr schwer –, »wünsche ich mir manchmal, sie würde schnell sterben.«
    »Du möchtest sie nicht leiden sehen. Gott versteht, dass du es nicht so meinst, mein Kind.«
    »Manchmal denke ich Schlechtes über die Toten«, fügte ich hinzu.
    »Über bestimmte Personen?«
    »Hauptsächlich über meinen Vater. Aber manchmal auch über meine Mutter. Und manchmal …«
    Mutter Piousina unterbrach mich: »Drei Monate seit der letzten Beichte sind vielleicht etwas zu lang für dich, meine Tochter.« Sie lachte wieder, was mich erneut störte, doch ich fuhr dennoch fort.
    »Manchmal schäme ich mich für meinen älteren Bruder Leo, weil er … Das ist nicht seine Schuld. Er ist der netteste, liebevollste Bruder, den es gibt, aber … Sie wissen ja wahrscheinlich, dass er ein bisschen schwer von Begriff ist. Heute wollte er Natty und mich zur Schule bringen, aber ich habe ihm gesagt, unsere Großmutter bräuchte ihn zu Hause und er käme sonst zu spät zu seiner Arbeit. Beides gelogen.«
    »Sind das all deine Sünden?«
    »Ja«, sagte ich und senkte den Kopf. »Ich bereue sie und alle Sünden, die ich noch begangen habe.«
    »Ich spreche dich los von deinen Sünden im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes«, sagte Mutter Piousina. Sie trug mir als Buße ein Ave Maria und ein Vaterunser auf, was mir lächerlich wenig vorkam. Ihr Vorgänger, Vater Xavier, hatte genau gewusst, wie eine ordentliche Strafe aussah.
    Ich stand auf. Als ich den bordeauxroten Vorhang öffnen wollte, rief sie mir nach: »Anya, zünde eine Kerze für deine Mutter und deinen Vater im Himmel an.« Sie schob das Gitter beiseite
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