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Bitterer Chianti

Bitterer Chianti

Titel: Bitterer Chianti
Autoren: Paul Grote
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dachte Frank giftig und wich zurück, als Laura ihm die Wange tätscheln wollte. Dabei beugte sie sich so weit vor, dass es sich kaum vermeiden ließ, ihr in den Ausschnitt zu blicken: Wie immer war an der Bluse ein Knopf zu viel offen. Ein anderer Fotograf wäre möglicherweise auf ihren Wunsch eingegangen, Fotos von ihr zu machen, mit denen sie sich bei einer dieser billigen Shows des Fernsehsenders RAI als podesta bewerben wollte, eines der langbeinigen, blond gefärbten Mädchen, die hinter dem Moderator auf einem Podest herumtanzten. Jemand anderes hätte die Situation ausgenutzt, um sie ins Bett zu kriegen, aber Frank hielt sich weder für Helmut Newton, noch stand er auf junge Mädchen – wenn er sich vorstellte, dass seine Tochter sich genauso affektiert benehmen würde, sie war ungefähr im selben Alter...
    «Mamma!» Der Schrei gellte wie «Feuer!» durchs Hotel, und Frank erstarrte. Was kam jetzt? Als Laura eilig hinter der Rezeption verschwand, warf er einen Blick in den Spiegel.
    Jetzt verstand er die Reaktion des Mädchens. Einen so verheerenden Anblick hatte er nicht erwartet: Sein starker Bartwuchs, die Schatten unter der Haut, ließen das Gesicht krank erscheinen. Die blauen Augen wirkten matt und glanzlos. Das dunkle Haar, in dem sich erste graue Strähnen zeigten, war zerzaust und verschwitzt, über dem linken Ohr klebte Erde. An der Schläfe war die Haut abgeschürft. Das sonst schmale Kinn wirkte aufgedunsen, die Schwellung als Folge der harten Schläge breitete sich aus, inzwischen tat sogar das Sprechen weh. Die Fotoweste mit den vielen kleinen Taschen für die Utensilien, die er beim Fotografieren brauchte, war so schmutzig wie die Jeans.
    Lauras Mutter legte bei Franks Anblick die Hände betend aneinander: «Signore! Che disgrazia .»
    «Bitte! Es ist nichts, ich bin nur gefallen, kann passieren.»
    «Brauchen Sie einen Arzt? Soll mein Mann Sie hinfahren? Geben Sie mir Ihre Kleidung, wir lassen alles waschen. Was ist geschehen?»
    Frank winkte ab. Diese Art von Hilfsbereitschaft erstickte ihn, und letztlich würde er sich doch noch verpflichtet fühlen, die Fotos von Laura zu machen, alles würde nur komplizierter. «Ich gehe gleich rauf, vorher müsste ich noch telefonieren, das Telefon auf meinem Zimmer ...»
    « Scusi , ich weiß, es ist kaputt, tut mir Leid. Der Monteur, Sie verstehen, er hatte keine Zeit, morgen vielleicht, kommen Sie, hier, an der Rezeption ...»
    Laura schien eine Chance zu wittern. «Er kann doch unser Büro benutzen, d’accordo, mamma?.» Entschieden schob sie Frank ins Büro hinter dem Foyer. «Hier, ich mache Ihnen den Schreibtisch frei.» Sie schob Papiere beiseite, stellte den Gebührenzähler auf null, doch statt zu gehen, blieb sie im Türrahmen stehen, bis ihre Mutter sie fortzog.
    « Grazie , alles in bester Ordnung, tutto bene, tutto », rief Frank beiden nach und sackte auf den Stuhl, Kopf und Arme fielen wie von selbst herunter, er schloss die Augen.
    Irgendwie musste er sich durchlavieren, ein Umzug war ausgeschlossen, die Redaktion zahlte das Zimmer. Er hätte sich das Hotel von seinem Honorar gar nicht leisten können, allerdings hatte Lauras Mutter klar gemacht, dass sie ihm das Zimmer einige Tage auch gratis überlassen würde, wenn er die Bilder von ihrer Tochter machte. Sie wünschte ihr wohl ein Leben jenseits von ungemachten Betten und zu harten Frühstückseiern. Der Vater durfte wahrscheinlich nichts davon wissen.
    Also konnte Frank weder ja noch nein sagen, wollte er es sich nicht mit der Hotelbesitzerin verderben, andererseits würde er sie nach Beendigung seines Auftrags, die besten Weingüter des Chianti Classico zu fotografieren, nie Wiedersehen – genau wie die Winzer, die er fotografierte. Einige würden im Belegexemplar die Fotos ihrer Fattoria oder Azienda suchen und sie dem Kellermeister zeigen, danach kam das Buch ins Regal. Ob nun er, Frank Gatow aus Hamburg, oder sonst jemand die Bilder gemacht hatte, war gleichgültig. Wieso sollte es anders sein als bei allen Reportagen zuvor? Beim Porträt allerdings waren die Menschen wichtig, für eine sechzigstel Sekunde, große Blende, Streiflicht – oder besser die Schärfe auf der rechten Gesichtshälfte? Später, auf dem Film, waren sie längst Material geworden.
    Was war heute mit ihm los, fragte sich Frank. Weshalb sah er alles negativ? Arbeitete er zu viel allein, oder schaute er nicht mehr lange genug hin? War er zu schnell und zu häufig unterwegs? Er sah viel, verdammt viel, er
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