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Bitterer Chianti

Bitterer Chianti

Titel: Bitterer Chianti
Autoren: Paul Grote
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konnte sich immer weniger daran erinnern. Tatsächliche Begegnungen wurden selten, Menschen, die ihn bewegten, die Einfluss nahmen. Je mehr Fotos er von jemandem machte, desto weniger konnte er sich später an ihn erinnern. Deshalb trug er auch nie ein Foto von Christine in der Brieftasche.
    Als ihm einfiel, weshalb er auf diesem unbequemen Stuhl saß, riss er sich zusammen und hämmerte ihre Nummer in die Tasten des Telefons. Doch statt Christine meldete sich seine geschiedene Frau. Frank hielt instinktiv den Hörer etwas weiter vom Ohr, denn sie ging sofort zum Angriff über:
    «Der Unterhalt für September ist zu spät gekommen, wie soll ich denn ...»
    «... dafür hast du bereits das Geld für den Oktober», konterte Frank und ärgerte sich, dass er überhaupt angerufen hatte. Streit mit seiner Ex-Frau konnte er in diesem Moment am wenigsten gebrauchen. Wieso war Christine nicht ans Telefon gegangen? Er zögerte. «Gib mir unsere Tochter, ich will nicht diskutieren, Hannelore, bitte ...»
    «Du bist wieder auf Reisen, statt dich um sie zu kümmern ...» Sie ritt weiter auf dem Unterhalt für September herum; dass der Oktober schon bezahlt war, spielte keine Rolle, auch nicht, dass Christine mittlerweile den halben Monat über bei ihm lebte.
    Frank wurde wütend und war schon kurz davor aufzulegen, als er hörte, wie Christine ihrer Mutter den Hörer aus der Hand riss: «Papa, Frank? Streitet euch von mir aus, wenn ich nicht da bin. Lass los, Mama, ich rede jetzt mit Papa ... nein, du kriegst den Hörer nicht!»
    Frank hörte, wie sich seine Ex-Frau schimpfend entfernte, dann wurde es ruhig. «Sie ist rausgegangen ... Frank?»
    «Christine? Geht es dir gut?»
    «Geht so, du hörst es ja, alles wie immer. Lass mich endlich ganz zu dir ziehen, bitte, ich bin schließlich achtzehn ...»
    «Nicht vor dem Abitur, das haben wir abgemacht, außerdem ... gut, wir reden darüber, wenn du herkommst. Noch zwei Wochen ...»
    «... und zwei Tage», unterbrach Christine, «ich habe bereits den Zug nach Florenz herausgesucht.» Sie nannte Frank die genaue Ankunftszeit. «Außerdem habe ich zwei Überraschungen ...»
    Als sie neun Jahre alt war, hatte Frank ihr nach langem Betteln den ersten Fotoapparat geschenkt, mit dreizehn Jahren gewann sie den ersten Wettbewerb, womit die berufliche Perspektive sich abzuzeichnen begann. Sie würde es weiter bringen als er, so viel war sicher. Frank hielt sich selbst als Fotograf für gut, manchmal auch für sehr gut, aber sie war geradezu besessen. Klamotten waren ihr nicht wichtig, die packte sie erst im letzten Moment, und Jungs fand sie langweilig, aber ihre Fotoausrüstung, die sie nach Florenz mitnehmen wollte, lag sicher schon griffbereit. Frank war versöhnt, als er merkte, dass Christine sich auf ihre gemeinsamen Ferien genauso freute wie er. Seinen momentanen Zustand aber verschwieg er besser – wozu sie nervös machen? Er berichtete ihr, dass er sein Handy verloren hatte, und nannte ihr die Telefonnummer vom Hotel. Er versprach, am Donnerstag wieder anzurufen.
    Ohne Christine hätte er seine Ehe nur als einen einzigen gewaltigen Irrtum sehen können. Noch ein knappes Jahr, dachte er, als er aufgelegt hatte und zu seinem Zimmer hinaufging, noch ein Jahr ... Welche Überraschungen hatte Christine wohl für ihn? Er seufzte.
    Der einzige Wermutstropfen in ihrer Beziehung war die entsetzliche Eifersucht seiner Tochter. War das immer so bei Scheidungskindern? Seine letzte Freundin hatte sie regelrecht weggebissen. Vielleicht doch keine so gute Idee, sie ganz bei sich wohnen zu lassen? Wenn sie wenigstens einen Freund hätte ...
    Als Nächstes rief er den Kameraservice in Florenz an, wo ein Tonband ihn über die Öffnungszeiten aufklärte. Das letzte Telefonat galt Massimo Vanzetti, einem Winzer, der spektakulär gute Weine machen sollte.
    «Non c‘è», sagte die Haushälterin oder Sekretärin abweisend, «Signor Vanzetti ist in Mailand und bleibt dort für drei Wochen.»
    Das war keine gute Nachricht. Die Tenuta Vanzetti stand als sehr wichtig! auf der Liste, die er von der Redaktion erhalten hatte, mit einem Ausrufungszeichen. Also nahm der Text ausführlich Bezug auf die Kellerei; das bedeutete zusätzlich zu den üblichen Aufnahmen ein Porträt des Winzers.
    «Aber ich kann die Signora holen», fuhr die Haushälterin fort. «Un momento, per favore ...»
    «Das wird wenig Zweck haben ...», antwortete Frank. Er brauchte den Winzer, den Mann, der den Wein machte, der für die
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