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Bisswunden

Bisswunden

Titel: Bisswunden
Autoren: Greg Iles
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und beinahe verliere ich das Gleichgewicht und falle. Ich nehme die Kamera aus dem Koffer, richte mich auf, schalte sie ein. Dann bemerke ich, dass ich vergessen habe, mein Stativ aufzubauen.
    Und da passiert es.
    Binnen drei Sekunden steigere ich mich von anfänglicher Nervosität in Hyperventilation, wie eine alte Frau, die in der Kirche ohnmächtig wird. Was unglaublich ist. Ich kann effizienter atmen als 99 Prozent der menschlichen Bevölkerung. Wenn ich nicht als Odontologin arbeite, bin ich Freitaucherin – Weltklasse in einem Sport, bei dem die Besten allein mit derLuft in den Lungen hundert Meter tief tauchen. Manche Leute sagen, Freitauchen wäre sportlicher Selbstmord, und da ist etwas Wahres dran. Ich kann mit einem Bleigürtel sechs Minuten lang am Boden eines Swimmingpools liegen, was die meisten Menschen mit dem Leben bezahlen würden. Und doch stehe ich jetzt hier, auf Meereshöhe in der Küche eines schicken Stadthauses, und kann nichts von dem Ozean aus Sauerstoff trinken, der mich umgibt.
    »Dr. Ferry?«, fragt Agent Kaiser. »Ist alles in Ordnung?«
    Panikattacke, sage ich mir. Ein Teufelskreis – die Angst verschlimmert die Symptome, und die Symptome steigern die Angst. Du musst den Kreis durchbrechen …
    Arthur LeGendres Leichnam wabert in meinem Blickfeld, als läge er am Boden eines seichten Flusses.
    »Sean?«, fragt Kaiser. »Ist alles in Ordnung mit ihr?«
    Bitte, lass das nicht passieren, flehe ich lautlos. Bitte nicht.
    Doch niemand erhört mein Gebet. Was immer mit mir passiert, es hat seit langer Zeit auf diesen Augenblick gelauert. Ein langsamer schwarzer Zug, der seit geraumer Zeit auf mich zugekommen ist, von weit weg, und jetzt, nachdem er mich eingeholt hat, donnert er über mich hinweg, ohne Geräusch und ohne Schmerz.
    Ringsum wird alles schwarz.

3
    E ine weibliche EMT kniet über mir und liest ein Blutdruckmessgerät ab, dessen Luftkissen meinen Arm umschließt. Das Ablassen der Luft weckt mich aus meiner Ohnmacht. Sean Regan und Special Agent Kaiser stehen hinter der EMT und blicken besorgt drein.
    »Ein bisschen niedrig«, sagt die emt. »Ich nehme an, sie istohnmächtig geworden. Ihr ekg ist vollkommen normal. Der Blutzuckerspiegel ist zu niedrig, aber sie ist nicht hyperglykämisch.« Die emt bemerkt, dass ich die Augen aufgeschlagen habe. »Wann haben Sie zum letzten Mal etwas gegessen, Dr. Ferry?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Sie sollten ein wenig Orangensaft trinken. Das hilft Ihnen wieder auf die Beine.«
    Ich sehe nach links. Die bestrumpften Füße des toten Arthur LeGendre liegen neben meinem Kopf. Seine Beine und der Rumpf liegen im rechten Winkel zu mir, entlang einer anderen Seite der Kochinsel. Ich blicke in die Richtung und lese erneut die blutige Botschaft.
    MEINE ARBEIT IST NIEMALS GETAN
    »Ist Orangensaft in dem Kühlschrank?«, fragt die EMT.
    »Selbst wenn welcher drin wäre«, sagt Kaiser, »dürften wir ihn nicht nehmen. Hier ist ein Verbrechensschauplatz. Hat vielleicht jemand einen Schokoriegel?«
    Eine männliche Stimme meldet sich zögernd. »Ich hab ein Snickers. War eigentlich als mein Abendessen gedacht.«
    »Schon wieder auf Atkins-Diät?«, spöttelt Sean und lacht nervös auf. »Los, rück’s raus.«
    Jetzt lachen alle – dankbar, ein wenig Spannung abbauen zu können.
    Als ich aufzustehen versuche, streckt Sean die Hand aus, um mich zu stützen. Ein dickbäuchiger Detective tritt vor und reicht mir sein Snickers. Ich danke ihm übertrieben und nehme ihn an, obwohl ich weiß, dass ich kein Blutzuckerproblem habe. Die ganze Scharade wird von einem gespannten Publikum verfolgt, einschließlich Captain Carmen Piazza, Chefin des Morddezernats.
    »Es tut mir Leid«, sage ich in ihre Richtung. »Ich weiß nicht, was das war.«
    »Das Gleiche wie beim letzten Mal, scheint mir«, beobachtet Piazza.
    »Wird wohl so sein. Aber jetzt bin ich wieder okay. Ich bin bereit.«
    Captain Piazza beugt sich zu mir vor. »Kommen Sie bitte für einen Augenblick mit mir nach draußen, Dr. Ferry«, sagt sie leise. »Sie ebenfalls, Detective Regan.«
    Piazza geht in die Eingangshalle. Sean wirft mir einen warnenden Blick zu; dann wendet er sich um und folgt seiner Chefin.
    Captain Piazza führt uns in ein Büro, das von der Halle abgeht. Sie lehnt sich mit dem Rücken an einen Schreibtisch und mustert uns mit verschränkten Armen und harten Wangenmuskeln. Ich kann mir durchaus vorstellen, wie diese olivhäutige Frau während ihrer Dienstzeit als Streifenpolizistin
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