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Bisswunden

Bisswunden

Titel: Bisswunden
Autoren: Greg Iles
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seine Brüder vor ihm, bis jemand das Rätsel seiner Psyche löst, oder bis er sich durch die Intensität des Konflikts in seinem Bewusstsein selbst zerstört. Vielen Leuten ist es egal, auf welche Weise es endet, solange es nur schnell geht.
    Mir ist es nicht egal.
    Sean steht wartend am Bürgersteig. Er ist mir einen Block weit vom Haus des Opfers entgegengekommen. Schneid hatte er schon immer. Aber hat er auch genügend Schneid, sich unserer gegenwärtigen Situation zu stellen?
    Ich parke meinen Audi hinter einem Toyota Landcruiser, steige aus und will meine Ausrüstung entladen. Sean umarmt mich flüchtig; dann lädt er die Sachen aus. Er ist sechsundvierzig, doch er sieht aus wie vierzig und besitzt die lässige, zuversichtliche Eleganz eines Athleten. Sein Haar ist größtenteils schwarz, die Augen sind grün mit einem Glitzern darin. Selbst nach achtzehn Monaten, die ich nun seine Geliebte bin, erwarte ich immer noch einen irischen Akzent zu hören, sobald Sean den Mund öffnet. Stattdessen kommen die Worte in gedehntem Singsang, wie es für New Orleans typisch ist, eine Art Brooklyn-Slang mit einer Andeutung von Languste.
    »Alles okay mit dir?«, fragt er.
    »Hast du deine Meinung geändert?«
    Er zuckt die Schultern. »Ich habe mich schlecht gefühlt.«
    »Scheiße. Du wolltest dich nur selbst überzeugen, dass ich nüchtern bin.«
    Ich sehe die Wahrheit meiner Worte in seinem Gesicht. Er mustert mich durchdringend, und er denkt gar nicht daran, sich zu entschuldigen.
    »Erzähl weiter«, fordere ich ihn auf.
    »Was?«
    »Du wolltest etwas sagen. Schieß los.«
    Er seufzt. »Du siehst mitgenommen aus, Cat.«
    »Danke für dein Vertrauen.«
    »Sorry. Hast du getrunken?«
    Vor Zorn verkrampfen sich meine Wangenmuskeln. »Ich bin zum ersten Mal seit Ewigkeiten vollkommen nüchtern.«
    Ich sehe Zweifel in seinen Augen. Doch als er mich dann mustert, verschwinden diese Zweifel. »Meine Güte. Vielleicht brauchst du einen Drink!«
    »Es ist schlimmer, als du vielleicht glaubst. Aber ich werde nichts trinken.«
    »Warum nicht?«
    »Komm, bringen wir diese Sache hinter uns.«
    »Ich muss trotzdem vor dir wieder rein.« Er wirkt verlegen.
    Zornig wende ich den Blick zur Seite. »Wie lange? Reichen fünf Minuten?«
    »Nicht so lange.«
    Ich winke ihn weg und steige wieder in den Wagen. Er kommt zur Fahrertür; dann ändert er seine Meinung und geht in Richtung Tatort davon.
    Meine Hände zittern. Haben sie schon gezittert, als ich aufgewacht bin? Ich packe das Lenkrad und zwinge mich, tief zu atmen. Langsam beruhigt sich mein Puls, und mein Herzschlag wird stetiger. Ich klappe die Sonnenblende herunter und überprüfe mein Make-up. Normalerweise bin ich alles andere als zwanghaft, was mein Erscheinungsbild angeht, doch Sean hat mich nervös gemacht. Und wenn ich nervös bin, kommen mir verrückte Dinge in den Kopf. Körperlose Stimmen, alte Albträume, lange zurückliegende Fehler und Fehltritte, Dinge, die Therapeuten gesagt haben …
    Ich überlege, ob ich Eyeliner auftragen soll, um meine Augen zu betonen, falls ich jemanden niederstarren muss. Eigentlich brauche ich das gar nicht. Männer sagen mir häufig, dassich wunderschön bin, doch das erzählen sie bekanntlich allen Frauen. Eigentlich ist mein Gesicht ziemlich maskulin, mit schräg stehenden braunen Augen und geschwungenen Brauen. Mein Vater, der seit zwanzig Jahren tot ist, lebt in jedem Winkel meines Gesichts weiter. Ich habe ein Bild von ihm in der Brieftasche. Luke Ferry, 1969. Lächelnd, in seiner Army-Uniform, irgendwo in Vietnam. Ich mag die Uniform nicht – nicht mehr nach dem, was der Krieg aus ihm gemacht hat –, doch ich mag seine Augen auf dem Bild. Noch immer voller Gefühl, noch immer menschlich. So möchte ich ihn in Erinnerung behalten. Ein Kleinmädchenbild von einem Vater. Einmal hat er mir erzählt, dass ich beinahe sein Gesicht bekommen hätte, doch im letzten Moment wäre ein Engel herabgerauscht und hätte es hübsch gemacht.
    Sean sieht die Härte in meinem Gesicht. Er hat mir gesagt, dass ich aussehe wie ein Raubvogel, wie ein Falke oder ein Adler. Heute Abend bin ich froh um diese Härte. Denn als ich aus dem Audi steige und meine Koffer und das Stativ schultere, sagt mir irgendetwas, dass Sean möglicherweise Recht hat mit seiner Sorge um meine Nerven. Ich werde heute Nacht gewissermaßen nackt da drinnen stehen, ohne den Mantel von Betäubungsmitteln. Und ohne diese vertraute chemische Barriere, die mich vor den scharfen Ecken
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