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Bisswunden

Bisswunden

Titel: Bisswunden
Autoren: Greg Iles
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aufgestellt. Als ich die Insel umrunde, erblicke ich ein bestürzendes Bild in Technicolor: ein nackter Toter auf dem Rücken. Die Details seines Oberkörpers treffen mein Bewusstsein in einem surrealen Schauer. Blaugraue Bisswunden auf der Brust, blutige Bisswunden im Gesicht, ein Loch von einer Kugel mitten im Bauch, eine Kontaktwunde von einer weiteren Kugel in der Stirn. Das superfeine Sprühmuster vom Einschlag eines Hochgeschwindigkeitsgeschosses überzieht die Marmorfliesen hinter dem Kopf des Opfers wie ein monochromes Gemälde von Pollock. Arthur LeGendres Gesicht ist eine erstarrte Maske aus Horror und Schmerz, erstarrt in der Zeit durch die Kugel, die durch seinen Hinterkopf ausgetreten ist.
    Ich zwinge mich, den Blick von den Bisswunden auf der Brust abzuwenden. Der Unterleib erzählt seine eigene Geschichte. Arthur LeGendre ist doch nicht ganz nackt. Er trägt schwarze Socken, wie ein Mann in einem Porno-Streifen aus den 1940ern. Sein Penis ist eine bleiche Eichel in einem Nest aus grauem Schamhaar, doch ich sehe Blut und eine Verletzung. Ich trete einen Schritt vor, und der Atem stockt mir in der Kehle. Da stehen, quer über zwei Türen der Insel gegenüber dem Waschbecken, in Blut fünf Worte geschrieben.
    MEINE ARBEIT IST NIEMALS GETAN
    Dünne Nasen aus Blut sind entlang den Schranktüren nach unten gelaufen und verleihen der Botschaft einen beinahe komisch aussehenden Halloween-Look. Doch es ist nichts Komisches an der Lache aus Blut und Serum unter dem Ellbogendes Toten. LeGendres Ellbogen-Arterie wurde aufgeschlitzt, um das Blut für die Botschaft zu entnehmen. Die Spitze seines rechten Zeigefingers wurde offensichtlich in das Blut getaucht. Hat der Killer die Worte mit dem Finger seines toten Opfers geschrieben, um nicht seinen eigenen Abdruck im Blut zu hinterlassen? Oder hat er LeGendre vor seinem Tod gezwungen, die Botschaft zu schreiben? Untersuchungen auf freies Histamin werden diese Frage beantworten.
    Ich muss mit meiner Arbeit anfangen, doch ich kann die Augen nicht von der Botschaft abwenden. Meine Arbeit ist niemals getan. Es ist eine gewöhnliche Phrase, so gewöhnlich, dass ich in Gedanken höre, wie meine Mutter sie ausspricht …
    »Brauchen Sie Hilfe, Dr. Ferry?«
    »Wie?«
    »John Kaiser«, stellt die gleiche Stimme sich vor.
    Ich blicke zu einem großen, schlaksigen Mann von etwa fünfzig Jahren auf. Er besitzt ein freundliches Gesicht mit haselnussbraunen Augen, denen nicht die kleinste Kleinigkeit entgeht. Er hat seinen Rang weggelassen. Special Agent John Kaiser.
    »Brauchen Sie Hilfe bei der Beleuchtung? Für die UV-Fotografie?«
    Ich fühle mich merkwürdig distanziert, als ich verneinend den Kopf schüttele.
    »Er wird brutaler«, meint Kaiser. »Vielleicht verliert er die Kontrolle. Das Gesicht des Opfers ist diesmal förmlich zerrissen.«
    Ich nicke erneut. »Auf der Wange sieht man subkutanes Fett.«
    Der Fußboden zittert, als Sean meinen schweren Koffer neben mir abstellt. Zu spät versuche ich mein Zusammenzucken zu verbergen. Ich befehle mir, tief durchzuatmen, doch meine Kehle schnürt sich bereits zusammen, und Schweiß bricht mir aus allen Poren.
    Ein Schritt nach dem anderen … nimm die Bisse mit der105-Millimeter Quarzlinse auf … Zuerst normaler Farbfilm, dann die Filter und UV. Danach die Alginat-Abdrücke …
    Als ich mich vorbeuge, um die Schlösser meines Koffers zu öffnen, kommt es mir vor, als bewegte ich mich mit halber Geschwindigkeit. Ein Dutzend Augenpaare beobachtet mich, und die Blicke scheinen meine Nervenimpulse zu behindern. Sean wird meine Unbeholfenheit bemerken, doch außer ihm niemand. »Es ist der gleiche Mund«, sage ich leise.
    »Was?«, fragt Agent Kaiser.
    »Der gleiche Killer. Er hat leicht schräg stehende laterale Schneidezähne. Ich erkenne es an den Bisswunden auf der Brust des Toten. Das ist kein abschließendes Urteil, nur eine … vorläufige Einschätzung.«
    »Aha. Ja, natürlich. Sind Sie sicher, dass Sie keine Hilfe brauchen?«
    Was zur Hölle habe ich denn gerade gesagt? Selbstverständlich ist es der gleiche Killer! Jeder hier in diesem Raum weiß das. Ich bin lediglich hier, um die Beweise mit der höchstmöglichen Genauigkeit zu dokumentieren und zu konservieren …
    Ich habe den falschen Koffer geöffnet. Ich brauche meine Kamera, nicht mein Abdruck-Kit. Mein Gott, reiß dich zusammen! Doch ich kann nicht. Als ich mich weiter vornüberbeuge, um den Kamerakoffer zu öffnen, erfasst mich plötzlich Benommenheit,
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