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Bewusstlos

Bewusstlos

Titel: Bewusstlos
Autoren: Sabine Thiesler
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wie einen Schlagstock in der Hand und ging vorsichtig durchs Haus.
    In der Küche standen benutzte Wein- und Wassergläser in der Spüle, im Mülleimer steckten vier leere Flaschen von ihrem Weingut.
    Christine wurde flau im Magen. In diesem Haus hatten sich offensichtlich noch vor kurzer Zeit Menschen aufgehalten. Seit Jahren verlassene Häuser sahen anders aus.
    Im Bad sah sie in die Toilette. Sie war sauber und nicht gelblich verkalkt. Wenn eine Toilette lange nicht benutzt wurde und das Wasser darin stand, bildeten sich immer dunkle Ränder. Hier nicht. Diese Toilette wurde also regelmäßig benutzt.
    Christine schluckte, und dann öffnete sie die nächste Tür. Offensichtlich das Schlafzimmer. Dort gab es eine uralte, tiefschwarze Kommode, einen ebenso alten, verblichenen ovalen Spiegel, der wie auf einem Stativ in der Ecke stand, und ihm gegenüber ein Doppelbett. Und darauf zerwühltes Bettzeug.
    Sie kannte es genau. Denn es gehörte ihr.
    Christine wurde übel. Sie löschte das Licht und verließ das Haus fluchtartig.
    Nein, redete sie sich ein. Es ist nichts. Es ist alles okay. Denn das wäre dreist. So nahe am Haus, so offensichtlich, und dann in unserer Bettwäsche … Ich hätte jederzeit durch Zufall vorbeikommen können. Nein – hör auf so zu denken, es ist alles gut, alles gar nicht wahr, du hast jetzt andere Sorgen.
    Sie schaltete das helle Licht der Stablampe wieder ein und ging weiter. Leuchtete nicht nur den Weg, sondern auch die Umgebung ab, um vielleicht irgendetwas zu entdecken, das auf Raffael und Stella hinweisen könnte.
    Und da fiel das Licht auf die Scheune schräg hinter Siros Hütte.
    An die hatte sie auch überhaupt nicht mehr gedacht. Ja, stimmt, da war mal etwas gewesen.
    Und bei diesem Gedanken hörte sie vor Schreck auf zu atmen und stand einen Moment ganz still.
    Irgendetwas war da. Irgendwelche Geräusche. Andere als das laute Zirpen der Grillen. Es kam aus der Scheune.
    Das Entsetzen und die Angst überschwemmten sie mit Macht. Es war wie ein Déjà-vu. Die Bilder, die sie schon glaubte, ausradiert zu haben, explodierten in ihrem Kopf: Svenja, wie sie in der Scheune hing, und Raffael zwischen den sterbenden Schafen, auf die er eingestochen hatte.
    Und jetzt hier diese Scheune in der Nacht.
    Sie stürzte los und wusste nicht, ob sie die Kraft haben würde, das, was sie erwartete, zu ertragen.

66
    Die Scheune war voller Schafe. Offensichtlich hatte der Bauer oder Schäfer sie hier vor dem Gewitter in Sicherheit gebracht.
    Eine Petroleumlampe brannte und baumelte an der Decke.
    Auf einem Schemel saß Raffael, mit dem Rücken zur Tür.
    Er musste gehört haben, dass sie die schwere Holztür aufschob, aber er hatte nicht reagiert. Drehte sich nicht um.
    Doch sie hörte, dass er leise vor sich hin summte. Eine einfache Melodie, die sie nicht kannte.
    Sie konnte sich nicht erinnern, Raffael jemals singen oder summen gehört zu haben.
    Die Schafe schliefen, aber sie bewegten sich, grummelten im Schlaf, schoben sich hin und her und rieben sich aneinander. Das waren die Geräusche, die sie gehört hatte.
    Und zwischen den Schafen lag Stella. In Embryonalhaltung. Unbeweglich. Wie eine Fehlgeburt. Zugedeckt mit einer alten, zerrissenen Pferdedecke.
    Stella war tot. Er hatte sie umgebracht.
    Er tötete alles um sich herum.
    Er war der Teufel, den sie geboren hatte.
    Christine merkte gar nicht, dass sie »Stella« flüsterte, und in diesem Moment drehte sich Raffael um.
    Er lächelte. Aber dieses Lächeln war nicht lieb, nicht hilflos und nicht beschwichtigend. Es war böse. Sein Gesichtsausdruck hatte etwas Gemeines, etwas Triumphierendes, und sie interpretierte diesen Blick als: Ich habe dir das Liebste genommen. Ich habe sie getötet.
    Das war der Moment, wo Christine nicht mehr nachdachte, sondern nur noch reagierte. Instinktiv wie ein Muttertier, das den stärkeren Feind angreift, weil er sein Junges gerissen hat, auch wenn es nicht die geringste Chance hat zu überleben.
    Sie holte aus.
    Er sah den Schlag kommen, aber wich nicht aus. Bewegte sich nicht.
    Mit voller Wucht, mit ihrer ganzen Kraft und Verzweiflung ließ sie die Stablampe auf Raffaels Stirn krachen.
    Das Blut schoss ihm aus dem Schädel und floss in Strömen über sein Gesicht und seinen Körper.
    Er hatte die Augen geschlossen.
    Christine schlug noch einmal zu. Und noch einmal.
    Bis Raffaels Kopf völlig zertrümmert war und er hilflos und schlaff vom Schemel rutschte und zwischen die Schafe fiel.
    Er ist tot, dachte
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