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Bewusstlos

Bewusstlos

Titel: Bewusstlos
Autoren: Sabine Thiesler
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die halb volle Flasche von unten mitgebracht hatte, fragte er, während er seine Flasche hochhielt: »Möchtest du?«
    »Sicher.«
    Karl schenkte ein.
    Raffael trank einen Schluck. »Dieses Castelletto, dieser Turm, der Hof, eigentlich alles und auch die ganze Gegend hier, das muss einem doch im Winter tierisch auf den Sack gehen, oder? Was macht ihr denn dann hier den ganzen Tag, wenn kein Schwein da ist, das ihr betütteln und bekochen könnt?«
    Karl dachte überhaupt nicht daran, auf die Frage zu antworten.
    »Hör zu«, sagte er ruhig. »Es hat keinen Zweck, dass du hierbleibst. Es funktioniert nicht, und ich will es nicht. Ich hab es dir schon einmal gesagt, und ich meine es ernst. Morgen früh bringe ich dich zum Bahnhof. Und wenn du kein Geld hast, finanziere ich dir die Fahrt nach Hause.«
    Raffael sagte nichts.
    »Wo ist dein Zuhause? Du hast mal gesagt, in Berlin?«
    Raffael zuckte die Achseln. »Mal hier, mal dort.«
    »Dann bist du also kein technischer Leiter am Berliner Ensemble.«
    »Nein!«, schrie Raffael. »Nein, bin ich nicht! Bist du nun zufrieden? Das ist es doch, was du die ganze Zeit wissen wolltest, nicht? Dass ich keinen Job, kein Geld und keine Wohnung habe. Dass ich nirgends zu Hause bin und nicht weiß, wohin. Dass ich noch nicht mal von Hartz IV lebe, sondern von dem, was ich mir zusammenschnorre oder zusammenklaue. Und jetzt fühlst du dich noch großartiger als vorher, oder? Jetzt hast du zumindest deine Bestätigung, dass nichts aus einem werden kann, wenn man mit sechzehn aus dem Internat abhaut, in das die Eltern einen abgeschoben haben. Weil man lästig war. Weil man störte. Weil ihr kein Kind gebrauchen konntet, das nicht perfekt war, sondern Svenjas Tod nicht verkraftet hatte. Das ist es doch, was ihr einfach nicht mehr sehen wolltet. Stimmt’s? Weg damit! Weg mit dem Jungen! Tschüss, Raffael!« Er machte eine wegwischende Handbewegung und fegte die neu geöffnete Flasche Rotwein vom Tisch.
    Der Wein ergoss sich über den Fußboden.
    Karl stand schweigend auf, wischte den Rotwein auf und öffnete eine neue Flasche. Dabei sagte er keinen Ton.
    »Wir dachten, dass es dir dort besser geht als bei uns. Denn mit uns hast du ja nicht mehr geredet. Du warst völlig vereinsamt und hast dich in dich verkrochen. Wir hofften, dass du im Internat vielleicht Kontakt zu anderen Kindern haben würdest.«
    »Dafür musste ich mich dort zweimal in der Woche vom Direktor in den Arsch ficken lassen. War das toll? War das toll?« Raffael sprang auf und lachte schrill. Dann rannte er wie ein Irrer in der Küche hin und her, nahm den Rotwein und trank hastig direkt aus der Flasche. Als er absetzte und seinen Vater ansah, hatte er glasige, rote Augen. »Aber es hat euch nicht interessiert, was mit mir los ist! Stimmt’s? Die paar Mal, als ihr gekommen seid, um mich zu besuchen … Das war nur eine leidige Pflichtübung. Habt ihr nicht gemerkt, wie beschissen es mir ging, ihr Arschlöcher?«
    »Nein, das haben wir nicht.« Karl versuchte ruhig zu bleiben und wünschte sich, Christine wäre hier. In solchen Situationen fand sie viel eher die richtigen Worte als er.
    »Und jetzt?«, brüllte Raffael. »Jetzt störe ich schon wieder, oder wie? Jetzt wollt ihr mich rausschmeißen? Wollt mich schon wieder loswerden! Willst du, dass ich abhaue, damit du weiter in Ruhe mit Paola vögeln kannst?«
    »Stopp mal!«, sagte Karl und war in diesem Moment doch froh, dass Christine bei dem Gespräch nicht dabei war. »Ganz ruhig. So können wir uns nicht unterhalten. Was willst du? Was willst du machen? Was willst du mit deinem Leben anfangen? Wo willst du überhaupt leben?«
    »Scheiße! Das weiß ich nicht! Ich hab kein Geld, keine Wohnung, keine Idee! Wie oft willst du das noch hören? Scheiße!«
    »Bist du gekommen, um hier bei uns zu leben? Um hier den ganzen Tag zu pennen und dich dann abends volllaufen zu lassen? Das kannst du dir abschminken!«
    Was sein Vater gesagt hatte, nahm Raffael für den Bruchteil einer Sekunde den Wind aus den Segeln. Dann schnaufte er, trank einen großen Schluck und schleuderte Karl die Worte direkt ins Gesicht. »Und wennschon. Du kannst nichts daran ändern. Ich bin dein Sohn. Ich kann hierbleiben, so lange ich will.«
    »Das werden wir ja sehen.«
    »Ja, genau. Das werden wir sehen.«
    Die beiderseitige Feindseligkeit war offensichtlich.
    »Hast du Paola umgebracht, Raffael?«
    Das saß. Raffael war verstummt.
    »Sag’s mir!«
    Raffael knabberte hektisch an seinem
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