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Bewusstlos

Bewusstlos

Titel: Bewusstlos
Autoren: Sabine Thiesler
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Neri war froh, dass Gianni keinerlei sportlichen Ehrgeiz entwickelte, den Berg in Rekordzeit hinaufzusteigen.
    San Martino lag in rötlich warmer Abendsonne, die Geranien in den Terrakottatöpfen vor den Türen schienen zu glühen, und die alten Männer saßen auf der Straße, einen Stock zwischen den Knien. Wenn ein Auto durch den Ort fuhr, mussten sie aufstehen, so eng war die Gasse. Aber das geschah zum Glück nur sehr selten.
    Neri wurde von allen freundlich, aber auch respektvoll gegrüßt. Fast jeder kannte Donato Neri, und man schätzte seine unaufgeregte Art, die Dinge eher zu beschwichtigen als zu dramatisieren.
    »Die Leute mögen dich hier«, stellte Gianni fest.
    Als sie den Ort hinter sich gelassen hatten, begann der Anstieg.
    »Weißt du«, sagte Gianni, »es ist wirklich seltsam. Und ich frage mich, woran es liegt … Ich meine das jetzt überhaupt nicht kritisch, babbo, darum nimm mir die Frage nicht übel, aber wie kommt es, dass wir beide die Menschen so unterschiedlich einschätzen?«
    »Was? Wen meinst du denn?«
    »Na, zum Beispiel Vasco. Ich bin hundertprozentig davon überzeugt, dass er seiner Freundin nichts angetan hat, du meinst das Gegenteil.«
    »Vergiss nicht, dass er sie regelmäßig verprügelt. Also kann er so ein Herzchen wohl nicht sein. Und alles, was wir in seiner Wohnung gefunden haben, spricht gegen ihn.«
    »Ich merke schon, du wirst sauer.« Gianni blieb stehen und sah seinen Vater an.
    »Aber überhaupt nicht!« Neri hoffte, dass er nicht rot geworden war.
    »Vielleicht hast du ja auch recht, aber mein Bauch sagt mir etwas anderes. Und ich weiß nicht, warum mir mein Bauch immer etwas völlig anderes sagt. Zum Beispiel bei diesen Deutschen im Castelletto Sovrano.«
    »Das sind ganz prima Leute. Sehr freundlich, ehrlich, pünktlich, sie bleiben nie jemandem etwas schuldig – auf die kann man sich vollkommen verlassen.«
    »Mag sein. Die beiden, denen das Castelletto gehört, habe ich nicht näher kennengelernt, da kann ich nichts sagen, aber ich meine den Sohn.«
    »Ich hatte den Eindruck, er ist ein netter, anständiger Junge.«
    »Nein, babbo«, sagte Gianni ruhig, »das ist er nicht.«
    »Ach?«
    »Ja. Ich war anderthalb Tage und eine Nacht mit ihm zusammen. Wir sind um die Häuser gezogen, und ich sag dir, der tickt nicht richtig. Bei mir sind sämtliche Warnlampen angegangen. So extrem, dass ich wirklich nichts mehr mit ihm zu tun haben will.«
    Neri blieb schnaufend stehen. »Aber ich dachte …«
    »Ja, ich dachte auch, das ist ein netter Kerl, aber das war ein Irrtum. Er kann sich sehr sympathisch verkaufen, aber wenn du länger mit ihm zusammen bist, merkst du, wie er in Wahrheit ist. Er ist aufbrausend, ohne Grund und aus dem Stand extrem aggressiv, er hat so etwas Irres im Blick, babbo, und ich glaube, er wäre zu allem fähig.«
    »Du weißt, was du da sagst?«
    »Na klar. Darum wollte ich ja auch nicht, dass jemand unser Gespräch hört. Auch nicht Mama oder Oma. Vielleicht spüre ich, dass etwas nicht stimmt, seit mir das alles in Montebenichi passiert ist. Vielleicht habe ich jetzt feinere Antennen. Jedenfalls hatte ich Angst vor ihm, babbo, richtige Angst.«
    Neri ging langsam weiter. Die ganze Sache gab ihm zu denken. Er konnte jetzt nicht aufgrund eines diffusen Gefühls seines sensiblen Sohnes irgendwelche Aktionen starten, aber er hatte Giannis Warnung zumindest im Hinterkopf. Und wenn Gianni diesen Raffael nicht mehr wiedersehen wollte, dann war das auch okay.
    Gianni beobachtete seinen Vater von der Seite und grinste. »Wir können umkehren, wenn dir das lieber ist.«
    »Ja, das wäre mir lieber«, meinte Neri, »zumal es auch bald dunkel wird.«
    Gianni machte auf dem Absatz kehrt und redete weiter. »Weißt du, in Siena hat er sich ein Messer gekauft. Weil er sein altes verloren hat. Du, das war schrecklich. Das war nicht normal, was er mit diesem Messer angestellt hat. Er hat es gestreichelt wie eine Frau, es war wie ein Liebesspiel, absolut pervers. Und dann wurde er aggressiv und begann wie ein Irrer damit in der Luft herumzustechen. Und dann, babbo, hat er einen ganz komischen Satz gesagt, der mir einfach nicht mehr aus dem Kopf geht. Er hat, um deutlich zu machen, wie toll das Messer ist, gesagt: ›Damit kannst du fünfzigmal zustechen, das bricht nicht ab!‹«
    Gianni blieb stehen. »Findest du so einen Satz normal, wenn man sich ein Messer kauft?«
    Neri schüttelte den Kopf. »Nein, ganz bestimmt nicht, nein.«
    Gianni tippte sich an die
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