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Betty kann alles

Titel: Betty kann alles
Autoren: Betty McDonald
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und im Winter zieh ich dich auf einem Schlitten in die Schule.» Zu ihrer Verblüffung weinte ich nur noch lauter.
    Dann kam der Arzt, untersuchte meinen Fuß und gab mir eine Tetanusspritze, und als mein Vater heimkam, untersuchte auch er meinen Fuß und verabreichte meiner Schwester Mary eine Tracht Prügel mit der borstigen Seite der Bürste. Mutter wischte mir die Tränen ab, versicherte mir, daß weder meine Füße noch meine Beine amputiert werden müßten und nannte Gammy eine alte Pessimistin, was Mary und mich sofort in gute Laune versetzte, weil wir dachten, Pessimist sei ein verpöntes Wort wie Bastard.
    Meine nächste Erinnerung daran, wie ich das Versuchskaninchen für Mary abgab, stammt aus einem kleinen Ort in den Bergen, ganz in der Nähe einer außer Betrieb gesetzten alten Mine. Wir waren auf Besuch bei Freunden und wurden gleich am ersten Tag gewarnt: «Geht um Himmels willen nicht in die Nähe der Mine. Es gibt keinen gefährlicheren Ort für Kinder als eine Mine und nun gar eine stillgelegte Mine mit dunklen, tiefen, halb verfallenen Schächten und verrosteter, brüchiger Maschinerie.» «Wir machen einen weiten Bogen um die Mine», versprachen wir, und das taten wir auch.
    Wir wateten in der Bucht; wir angelten; wir suchten Blutegel und setzten sie an unseren Beinen an, weil Mary behauptete, dies reinige uns innerlich. Wir pflückten Blumen und schnitzten mit unseren Taschenmessern Weidepfeifchen; wir waren auf der Hut, nicht auf Klapperschlangen zu treten oder Stieren auf der Weide in die Quere zu kommen, und wir machten einen weiten Bogen um die verlassene Mine.
    Und dann beschlossen Mary und ich eines schönen Tages, Heidelbeeren pflücken zu gehen. In derbe Arbeitshosen gekleidet, Strohhüte auf dem Kopf und jede einen kleinen Eimer mit Deckel schwingend, machten wir uns auf den Weg. Es war ein herrlicher Tag. Die Sonne brannte, und die Luft war erfüllt vom süßen Geruch warmer Tannennadeln und reifer Heidelbeeren. Wir entdeckten bald, daß wir uns unter die Heidelbeerbüsche auf den sonnendurchwärmten Boden legen und die Beeren von den Zweigen in unsere Eimerchen streifen konnten. Wir rutschten von einem Busch zum anderen und freuten uns unseres Lebens.
    Und dann sah Mary die Gleitbahn. «Was ist das für eine komische Rinne?» fragte sie und rollte herum auf den Bauch und schaute den Bergabhang hinunter. Es sah wie ein grauer verwitterter Drache aus, der sich den Berg hinunterschlängelte. Wir beschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen, stülpten die Deckel auf unsere Eimerchen und trollten uns hügelabwärts.
    Die Rinne, einst dazu erstellt, um Wasser in die Mine hinunterzubefördern, war ursprünglich von starken, hochbeinigen Holzböcken gestützt worden. Da wo wir standen, hatte ein Erdrutsch den Stützen den Boden entzogen. Die Rinne war gebrochen, und der untere Teil zog sich nun wie eine Riesengleitbahn den Bergabhang hinunter. Die Innenseite hatte sich vom Wasser grünlich gefärbt und war heiß von der prall darauf scheinenden Sonne und schlüpfrig wie eine Eisbahn durch die unzähligen dürren Tannennadeln, die hineingeweht waren.
    Seite an Seite knieten wir nieder und starrten in die dunkle Röhre. Sie schien in die Unendlichkeit zu führen. Von unserem Standort aus schien sie überhaupt kein Ende zu nehmen; sie wurde enger und enger und sah in weiter Feme nur noch wie ein dunkler Punkt aus. Mary rief «Ahhhhhh! Ohhhhhh!» hinein, und ihr Ruf wurde dröhnend zurückgeworfen. Plötzlich richtete sich Mary ein wenig auf und sagte mit vor Erregung zitternder Stimme: «Was für eine fabelhafte Rutschbahn! Eine Riesenrutschbahn!»
    Ich sagte nichts, aber ich spürte ein sonderbares Kribbeln im Magen. Wortlos zog ich mich von der Rinne zurück und ließ mich auf einem Felsblock in der Sonne nieder. Kleine Steinchen, von meinem Fuß in Bewegung gebracht, kollerten den Berg hinunter. Hoch am Himmel, in der hellen blauen Weite, zog ein Adler langsam seine Kreise. Mary, die noch immer vor der Rinne kniete, beugte sich kopf-voran in die Öffnung, hielt sich aber an beiden Seiten fest und sagte: «Du müßtest bäuchlings rutschen», während sie ihren Umfang und den Durchmesser der Rinne abschätzte.
    «Was meinst du mit ‹du›?» erkundigte ich mich mißtrauisch. Mary verzichtete auf eine Antwort.
    «Papa hat gesagt, Gleitschächte seien gefährlich», erklärte ich und rutschte ein wenig weiter weg.
    «Aber doch nicht solche, Betsy!» erwiderte Mary mit zuckersüßer Nachsicht.
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