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Betty kann alles

Titel: Betty kann alles
Autoren: Betty McDonald
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können. Der Erfolg war, daß unsere feuchten Nasen die Farben verwischten. Miss Crispin war sehr nervös, und es gab Vormittage, an denen sie uns anschrie, wir sollten Ruhe halten. Dann pflegten rote Flecke auf ihren Wangen zu erscheinen, und sie massierte und knetete die faltige Haut an ihrem Hals mit einer Energie, als wäre es Teig. Am Freitag setzte sie sich ans Klavier, und wir hüpften im Raum umher und sangen Volks- und Vaterlandslieder. Die höchste Sprosse auf der Leiter dieser fragwürdigen Belustigungen war das Singen von «Alter schwarzer Joe», und das ungeschickte Herumtanzen um die Kindergartenstühlchen.
    Man vergleiche diesen Kindergarten mit der imposanten Schule, die Mary besuchte, und wo Tag für Tag die tollsten Dinge geschahen – nach ihren und Joe Doners Erzählungen zu schließen. Joe Doner war ein Junge aus der Schule, der unweigerlich als Zeuge für die unglaublichen Geschichten, die Mary uns auftischte, aufgerufen wurde. «Wenn ihr's nicht glauben wollt, fragt nur Joe Doner», bekamen wir so oft zu hören, daß es seither zu einem Familienwahrspruch geworden ist, der jeden dick auf getragenen Schwindel begleitet. Daß in Marys Schule kleine Kinder mit Nagelstöcken geschlagen, ältere Buben vor den Augen der ganzen Klasse mit neunschwänzigen Katzen gepeitscht wurden, Erstkläßler Tinte trinken oder Kerngehäuse von Äpfeln essen mußten, war nichts Besonderes. Nachzügler wurden mit Vorliebe in den Keller gesperrt, und die schreckliche und grausame Methode, den armen Kindern nie zu erlauben, aufs Klosett zu gehen, so daß sie vor Schmerzen schrien und sich in ihrer Not nicht anders helfen konnten, als in die Hosen zu machen, war gang und gäbe.
    Cleve und ich glaubten Mary natürlich alles aufs Wort, was sie uns erzählte, aber ebenso verständlich regte uns nach einiger Zeit das ständige Prügeln, Morden und Hosennässen, das sich in der richtigen Schule abspielte, nicht mehr sonderlich auf. Als Mary unser schwindendes Interesse an ihren wilden Geschichten bemerkte, begann die Sache mit dem «Salami-Buch», und monatelang hielt sie uns damit in einem Zustand fiebriger Spannung und neugierigen Neides.
    An einem schneereichen Winternachmittag kam sie nach der Schule daheim zur Türe hereingestürzt, aber anstatt wie üblich eine Serie ihrer greulichen Geschichten vom Stapel zu lassen, hielt sie Mutter und Gammy nur ein großes Heft mit einem glänzenden, rötlich gesprenkelten harten Deckel entgegen und verkündete strahlend: «Da – seht euch das an! Ich nenne es mein Salami-Buch, und da schreibe ich alles hinein, was ich lerne.» Sie klopfte sich sorgfältig den Schnee von ihren Fäustlingen, schlug dann den glänzenden Deckel des Heftes auf, deutete auf die erste Seite und erklärte voller Stolz: «Das haben wir heute in der Schule gemacht. Ganz allein, ohne daß uns jemand geholfen hat!»
    «Sehr hübsch, Kind!» sagte Mutter, und Gammy echote: «Wirklich sehr hübsch!» Cleve und ich pirschten uns heran, um auch zu sehen, was so hübsch war, und da klappte Mary das Heft zu und hielt es hinter ihrem Rücken versteckt. «He, wir wollen auch in dein Salami-Buch sehen!» protestierten wir. Gerade das wollte Mary hören. Mit aufreizend öliger Freundlichkeit erwiderte sie: «Ich würde es euch ja so gerne zeigen, Cleve und Betsy, wirklich, ich wüßte nicht, was ich lieber täte, aber Miss O'Toole erlaubt es nicht. Unseren Eltern dürfen wir unser Salami-Buch zeigen, hat sie gesagt, aber auf keinen Fall unseren kleinen Geschwistern.» Mutter und Gammy lachten und riefen: «Unsinn!» Aber Mary stampfte mit dem Fuß auf und entgegnete: «Wenn ihr's nicht glaubt, dann fragt nur Joe Doner.»
    Tag für Tag deutete Mary neue Geheimnisse im Salami-Buch an, bis ich des Nachts davon träumte und mir vorstellte, wie ich es erwischte und öffnete und voller Anziehpuppen und bunter Bleistifte fand. Aber kein Spion hat jemals seinen Geheimcode vorsichtiger gehütet als Mary ihr Salami-Buch. Manchmal arbeitete sie an Heimaufgaben darin, aber dann legte sie sich so weit darüber und deckte es mit den Armen gegen jede Sicht ab, daß sie buchstäblich unter ihrem Magen schrieb oder zeichnete. Des Nachts legte sie es unter ihr Kopfkissen, und selbst zum Schlitteln oder in die Tanzstunde schleppte sie es mit. Nie wurde sie grob oder gar böse, wenn wir sie beschworen, uns doch einen Blick in das Buch werfen zu lassen. Sie blieb bei der anfangs eingenommenen Pose öliger Überlegenheit und bedeutete uns,
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