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Betty kann alles

Titel: Betty kann alles
Autoren: Betty McDonald
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gewesen. Ich war nicht imstande, Stahlkugeln auf den Ohren zu balancieren, doch Betty, «der menschliche Vogel, der kühnste Springer aller Zeiten» konnte ich nach Marys Überzeugung sein, und als Folge dieser Überzeugung stand ich an einem herrlichen Sommermorgen zitternd und bebend neben der offenen Falltüre des Heubodens. Ich war nicht mehr als drei oder dreieinhalb Meter vom Erdboden entfernt, aber ich werde nie vergessen, wie schwindelnd hoch mir mein Standplatz vorkam.
    Big Butte, ein erloschener Vulkan, der uns stets als der höchste Berg der Welt erschienen war, erhob sich vor mir. M – 1915 stand in riesiger weißer Schrift auf die dunkle Felswand geschrieben. Die Schüler der Minenschule, an der mein Vater lehrte, hatten die Inschrift verfaßt. Ich konnte die Minenschule sehen. Ich konnte unsere Köchin Mary sehen, wie sie Wäsche im Hof aufhängte. Ich konnte unzählige sonnenüberglänzte blaugrüne Berggipfel sehen, und ich sah Mary, die auf dem Platz vor der Scheune herumspazierte, mit einem Stock auf mich deutete und dazu posaunte: «Meine Daaamen und Herren! Schauen Sie dort hinauf und sehen Sie Betty, den menschlichen Vogel, das mutigste Kind der Welt, nur sieben Jahre alt und verwegen genug, von diesem Riesengebäude auf dieses kleine Häufchen Stroh herunterzuspringen.»
    Ich sah auf das Strohhäufchen hinunter, und es war wirklich sehr klein. «Das ist nicht genug Stroh», erklärte ich, vom Rand der Falltüröffnung wegstrebend. «Klar ist´s genug», erwiderte Mary und ließ ein paar Strohhalme durch die Finger gleiten, als könnte mich das von ihrer Menge überzeugen. «Mehr wollte uns Mr. Murphy nicht geben», setzte sie in einem Anflug von Ehrlichkeit hinzu. «Los, Betty, spring! Du wirst sehen, wie wunderbar es ist!»
    Mein Magen wurde zu einem Eisklumpen, und mein Herz schien sich in meinen Kopf verirrt zu haben. «Bum! Bum! Bum!» machte es direkt hinter meinen Augen. Mary hatte mir ehrenwörtlich versichert, daß ich wie der Vogelmensch springen lernen könnte, wenn ich nur oft genug und genügend hohe Sprünge übte. Sie hatte das Training begonnen, indem sie mich vom Gartenzaun springen ließ, dann kam das Dach des Holzschuppens und das Geländer unserer Veranda. Mit der Zeit verschwand zwar meine Angst etwas, aber daß ich sanfter gelandet wäre, konnte ich nicht behaupten. Ich müsse von genügender Höhe hinunterspringen, behauptete Mary, dann würde mich ein Gefühl überkommen, als segelte ich durch die Luft, und ich würde sanft wie auf Engelsflügeln niedergleiten. Dieser Sprung vom Heuschober sollte die große Gelegenheit sein. Eines stand für mich fest: Wenn sich der Traum bewahrheitete und ich wirklich sanft zur Erde niederglitt, dann würde sich auch mein anderer Traum verwirklichen, und ich würde eines Tages stolze Besitzerin tiefschwarzer Locken und eines Kleides ganz aus irischer Spitze über einem rosa Taftunterkleid, wie es die kleine Tochter des Nachtwächters hatte, sein. Dies war jedenfalls der ausschlaggebende Punkt in Marys Überredungstaktik gewesen.
    «Achtung, Betsy», rief sie zu mir zitterndem Bündel hinauf. «Ich zähle jetzt, und bei zehn springst du!» Ich sah in die erwartungsvoll auf mich gerichteten Augen der versammelten Zuschauer, und Mary begann langgezogen zu zählen. «Ei-ens – zwe-i, dre-i»; ich schloß die Augen, holte tief Atem, und als ich «ze-hen» hörte, sprang ich. Ich glitt nicht sanft wie auf Engelsflügeln nieder, ich prallte unsanft auf das Häufchen Stroh, und zwei der spitzen Zähne des verborgenen Rechens drangen in meinen Fuß. Mary und Marjorie waren ehrlich erschrocken über ihre Fahrlässigkeit und trugen mich heim, das heißt, Mary trug mich, während Marjorie den Stiel des Rechens hielt, der ein Teil von mir geworden war.
    Als wir heimkamen, rief Mutter gleich den Arzt an, und während wir auf ihn warteten, mußte ich meinen Fuß in heißem Emser Wasser baden, und Gammy stand kopfschüttelnd dabei und erklärte: «Kinder sind Wilde, weiß Gott, und ich würde mich gar nicht wundern, wenn man Betsy die Füße abschneiden müßte.»
    «Nicht beide», tröstete Mary, «bloß einen.»
    Bis zu diesem Augenblick hatte ich mich sehr tapfer gezeigt, aber das ging über meine Kraft. «Ich will keinen Fuß abgenommen kriegen», weinte ich, «und dann bloß noch mit einem Fuß Schlittschuh laufen müssen.»
    «Mach dir nichts draus», tröstete Mary. «Wir lassen einen niedlichen kleinen Schlittschuh für deine Krücken machen,
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